EM-Finale. Ich bin für die Italiener, obwohl ich weiß, dass die Spanier die besseren sind. Damit mache ich mir aber keine Freunde. Ich werde belehrt darüber, dass Spaniens Fußball ganz viel mit Kommunismus zu tun hat, Italien dagegen dem Starprinzip folgt. Ich halte dagegen, dass sich die italienische Mannschaft seit ihrem letzten Auftritt auf einem internationalen Turnier verändert hat, dass auch sie kreativen Fußball spielt. Außerdem: Was ist schon gegen Stars einzuwenden? Pirlo und Buffon, vor ihrer Zeit gealtert und mit einem verlebten Charisma versehen, sind wahrhafte Leinwandhelden: Cool, abgehoben, und sie wissen (nicht), was sie tun. Beim Public Viewing setze ich mich wie sonst auch im Kino so, dass mir niemand den Blick versperren kann, also ganz nach vorne. Ich lasse nichts zwischen mich und die Leinwand. Um halb elf fängt mein Abendfilm an, hoffentlich gibt es keine Verlängerung, auch kein Elfmeterschießen. Und hoffentlich wird das Spiel interessant. Es gibt nichts schlimmeres als 90 Minuten vertane Zeit. 90 Minuten sind ja auch die Standardspielfilmlänge. 90 Minuten eignen sich perfekt für eine Dramaturgie mit Anfang, Höhepunkt und Schluss. Spannend wird es, wenn es nicht nur zur Halbzeit einen Cliffhanger gibt, sondern wenn sich überhaupt spannende Drehmomente während des Spiels ereignen. Nach dem 2:0 für Spanien wünsche ich mir, dass noch ein Tor fällt, von mir aus von den Spaniern, da ist noch was drin, sage ich mir. Während ich nervös auf meinen lackierten Fingernägeln knabbere, stelle ich fest, dass ein Fußballspiel die ideale Schule des Sehens ist. Aktiv muss man sehen, will man überhaupt was vom Spiel verstehen. Und wenn wir uns vorstellen, dass der Fußball der passive Volksport überhaupt ist, dann verstehe ich eines nicht: Warum das dann für die meisten Leute im Kino nicht möglich drin ist, das mit dem aktiven Gucken. Die Filme mit dem größten Erfolg sind immer noch die, in denen der Zuschauer nichts dazutun muss (oder auch kann), um an den Film ranzukommen. Es sind Filme, in denen er sich einfach einlullen lässt, in der die Handlung bis ins Detail expliziert wird. Filme, die sich dem Zuschauer entgegenschmeißen wie ein Werbeclip, meist im Dienste von höheren, allgemeinen und vermeintlich wahren Werten.
Ich merke, wie am dritten Tag des Filmfests mein korallenfarbener Nagellack abzublättern beginnt. Und ich langsam unruhig werde im Universum, wo Filme und ins Kino gehen zu einem gewissen Lifestyle gehören. Lifestyle: Insein, Schicksein, Dabeisein. Egal ob bei Party, Empfang oder After Hour. Kaum einer hat dabei Lust sich anzustrengen wie bei einem Fußballspiel. Im Kino sitzen, den Film verfolgen, aktiv, mit analytischem Sehen, momentanen Bewertungen, Kombinationen, Interpretationen und finalen Meinungen zu schauspielerischen und dramaturgischen Qualitäten. Das war ein guter Film! wird gerne gerufen, wenn konsensfähige Themen in häppchenhafter Manier wie beim Empfang die Canapées dargeboten werden, der Plot sich süffig anlässt wie das dazugehörige Glas Prosecco. Was für ein schöner Film!, rufen dagegen diejenigen, die sich durch einen Film hindurchgearbeitet haben, die partizipierten an der Entstehung, im Kopfe des Betrachters.
Da fällt das 3:0 für Spanien, wenig später steht es 4:0, Endstand. Das Match war ein echtes Bravourstück. Alles, was ein Spiel braucht. Jetzt gehe ich ins Kino.
Dunja Bialas