Mit flammenden Worten über die Freiheit der Kunst hat Festivalpräsident Marco Solari die 66.internationalen Filmfestspiele von Locarno eröffnet. Bei allem Wunsch nach Wachstum, auch um als Festival konkurrenzfähig zu bleiben, darf diese Freiheit nicht Sachzwängen geopfert werden. Möglich, dass diese Worte nicht ausschließlich die Identität des Festivals, als Ort, nicht nur künstlerischen, sondern auch intellektuellen Austauschs, betonen sollten, eventuell sollen sie erwarteter Kritik schon im Vorfeld den Wind aus den Segeln nehmen. Immerhin beinhaltet die Auswahl des neuen künstlerischen Direktors Carlo Chatrian ein paar Filme, die Kleingeistern missfallen könnten.
Zur Eröffnung im schönsten Freiluftkino, der Piazza Grande, gab es zunächst einen Ehrenleoparden für den grossen Christopher Lee, der das Publikum mit einer anekdotenreichen Dankesrede auf Italienisch und Englisch bezauberte. Mit „2 Guns“ von Baltasar Kotmákur gab es satirische Schüsse gegen die Allmacht der diversen amerikanischen Geheimdienste; Drogenfahnder gegen Geheimdienst der Armee, gegen Drogenbaron, gegen CIA, irgendwann jeder gegen jeden, die Betrüger betrügen sich gegenseitig, und die Helden werden von ihren Dienstherren abserviert als billiges Bauernopfer. Temporeich, witzig, nicht immer „politisch korrekt“, aber dennoch bleibt der Film an Ende konventioneller als er sich selbst darstellt. Er bleibt ein gutes altes „Buddie-Movie“, und am Ende kann man sich „nur auf den Typen, der direkt neben dir kämpft“ verlassen. Trotzdem, Spass hat es gemacht, und trotz eines mächtigen Gewitters ab der Hälfte des Films, ein gelungener erster Abend in Locarno.
Und dann beginnt der „Ernst“ des Festival-Alltags: rein ins Kino, raus, nächstes Kino, schneller Kaffe, rein ins Kino…
Zum Beispiel in die Weltpremiere des peruanischen Films „El mudo“ (Der Stumme) von Daniel und Diego Vega. Ein Richter wird angeschossen, und versucht, obwohl die Polizei alles nur für eine Zufall hält, den Täter ausfindig zu machen. Das ist die eine Seite der Geschichte, die andere ist eher eine Milieustudie: Vater Richter, Mutter Richterin, die erschossen wurde, halbwüchsige Tochter, die nicht Jura studieren mag, politische Intrigen auf alltäglichem Niveau, viel Schweigen und Langsamkeit; ein bisschen verwirrend und doch fesselnd.
Reden und Geschrei, streiten und versöhnen dagegen in „Le sens de l’humour“ (Sinn für Humor) von Marilyne Canto, die auch die Hauptrolle spielt. Eine verwitwete junge Mutter beginnt eine Beziehung, von der sie immer wieder, in recht drastischen Worten, behauptet, dass sie sie gar nicht will. Wegstossen und zurückholen bestimmen die Beziehung, mittendrin ihr kleiner Sohn, der sich nicht sehnlicher wünscht, als eine Familie und einen kleinen Bruder. Klingt nach „Wohlfühlkino“ hat aber sehr sympathische Ecken und Kanten, die den Film aus der Masse herausheben. Eher ein Reinfall der thailändische Film „Sai nam tid shoer“ (Am Fluss) von Nontawat Numbenchapol. In sehr schönen Bilder wird ein thailändisches Dorf an einem Fluss gezeigt, statisch nicht nur die Bilder, sondern auch das Dorfleben, das eine Aneinanderreihung von trägen, zähen Stunden zu sein scheint. An sich will der Film ein Umweltproblem und seine Konsequenzen zeigen, der Fluss ist seit Jahren durch Blei verseucht, es gibt kaum mehr Fische, die Bevölkerung wurde nie entschädigt. Aber es fällt schwer dem Thema zu folgen, irgendwie bleiben nur die schönen Bilder, aber es fehlt das filmische, erzählerische Konzept.
Statt mit 8000 Zuschauern auf der Piazza Grande, ausweichen, wegen Regen, ins „nur“ 3000 Zuschauer fassende Fevi. Carlo Chatrian verteilt charmant weitere Ehrenleoparden, diesmal an Anna Karina- die ihren Leoparden küsst! Also doch!- und an Sergio Castellitto, bevor er Regie und Darsteller von „Vijay and I“ von Sam Garbarski auf die Bühne holt. Diese belgisch-luxemburgisch-deutsche Koproduktion ist ein Riesenspass, mit einem kleinen, nachdenklich stimmenden Einschlag und einem toll spielenden Moritz Bleibtreu, in der Rolle eines Schauspielers, von dem Freunde und Familie glauben er sein tödlich verunglückt, und der, verkleidet als indischer Freund des „Verstorbenen“, endlich zu dem wird, der er, bisher, nie geschafft hat zu sein. Tosender Beifall im Saal, trommelnder Regen draussen.