Weltpremieren und Weltstars auf der Piazza Grande;
Faye Dunaway, Victoria Abril und Jacqueline Bisset, 3 Abende, 3 grosse Schauspielerinnen, die Ehrenleoparden in ihre Arme schliessen dürfen. Eine Zeremonie, die jeden Abend den Anfang des oder der Piazza-Filme verzögert, bei zwei Filmen ergibt das schnell einen ziemlich langen Abend auf den unbequemen, und weiterhin mit einem lauten Scheppern zerbrechenden, Stühlen. Aber das ist jammern auf hohem Niveau; zum Beispiel wenn man gleich zwei Weltpremieren zu sehen bekommt: „La variable umana“ von Bruno Oliviero. Älterer, grimmiger Mailänder Mordermittler, alleinerziehender Witwer, soll einen Mord an einem Unternehmer aufklären, der, allem Anschein nach, eine Schwäche für junge Mädchen hatte. Gleichzeitig droht die Beziehung zu seiner Teenager-Tochter in Streit und Gefühllosigkeit zu verschwinden. Solide gemachter Thriller, erzählt im langsamen Tempo, das das Innenleben seiner Hauptfigur widerspiegelt; nicht unspannend.
Wesentlich rasanter der politisch völlig unkorrekte, schräge, neue Film von Quentin Dupieux „Wrong Cops“, in dem vom Drogen dealenden Bullen, der seine Ware in toten Ratten versteckt, seinem busenfixierten Kollegen, bis zum, quer durch die Gegend und den Film geschleppten, Schwerverletzten, ist alles dabei, was man sich vorstellen kann; keine Geschmacklosigkeit, die nicht ausprobiert wird, und schon hat man auch weit nach Mitternacht noch ein hellwaches Publikum auf seiner Seite. Empfehlenswert, aber nichts für Zartbesaitete.
Humor der eher konventionellen, wenn auch grellen Sorte, am Abend darauf: „We are the Millers“ von Rawson Marshall Thurber. Kleindealer David lässt sich seine Drogen klauen, wird, um seinem Boss zu entschädigen, auf eine Schmuggeltour nach Mexiko geschickt. Um dort nicht aufzufallen, schart er, seine strippende Nachbarin, einen Nachbarsjungen und eine junge Obdachlose, als „Familie“ um sich, mietet einen Riesencamper, und die Reise beginnt, und mit ihr jeder zu erwartende Ärger. Viele abstruse Situationen werden mit klamaukhafter Action und witzigen Dialogen gelöst, aber am Schluss ist es doch hauptsächlich eine typische romantische Komödie. Ganz unromantisch: „The keeper of lost causes. Jussi Adler-Olsen“ von Mikkel Nørgaard, spannender, gut gemachter Thriller, der die grosse Leinwand zwar füllt, aber seinen Platz doch eher im Fernsehen hat. Jede weitere Wort würde die Spannung verderben.
Aber Locarno, das sind nicht nur die grossen, lauten Filme der Piazza, das sind auch die kleinen Filme, die es zu entdecken gibt, zum Beispiel Kurzfilme junger Regisseure in der Reihe „Leoparden von Morgen“.
Mit einem ernsten Thema einen wunderbar witzigen Animationsfilm zu machen gelingt mit „Vigia“ von Marcel Barelli. Die Geschichte der Biene, die genug von Umweltgiften und Verschmutzung hat, und sich eine saubere Blumenwelt suchen will. Strichmännchenhafte Bienen, mit grotesk grossen Zähnen, kotzen und verenden an Pestiziden, und selbst die Flucht in die Berge bringt keine Rettung, sieht aus wie ein lustiger Kinderfilm, ist aber traurige Realität.
Dokumentarisch: „Zima“ (Winter) von Cristina Picchi, eine Winterreise durch Nordrussland und Sibirien. Wunderschöne Bilder von Landschaften, Schneegestöber, Orten, unterlegt mit kurzen Off-Texten von Menschen, die diese Landschaften und Orte bewohnen, so entsteht ein spannendes Gesamtbild einer spröde-schönen Gegend.
Sehenswert: „Zinneke“ von Rémi Allier; ein kleiner Junge treibt sich auf dem Flohmarkt rum, geht einem Brüderpaar zur Hand, und läuft, einem jungen Hund gleich,den beiden hinterher, bis sie einwilligen ihn auf eine nächtliche Raubtour mitzunehmen. Was an dem Film berührt, ist die Beharrlichkeit mit der das Kind versucht sich Wärme zu holen, wo man eigentlich keine vermuten würde.
Mit Spannung und grossem „Bahnhof“ wurde die Weltpremiere von „Feuchtgebiete“ erwartet, RTL hatte tatsächlichen einen Ü-Wagen vor dem Kino, jede Menge Kameras schwirrten herum, eine riesige Warteschlange vor dem Kino, Zuschauerbefragung vorher und nachher…. Wie der Film im Verhältnis zum Buch ist, müssen die beurteilen, die es gelesen haben. Aber er ist weder ein Skandal, noch wirklich jugendgefährdend und Sex wurde in vielen Filmen schon deutlich expliziter gezeigt. Eine verzogene,sexuell experimentierfreudige Teenagerin, mit überbordender Phantasie und, wie es am Schluss aussieht, einem grossen Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit, räkelt, flucht, fummelt und albert sich durch den Film, das ist manchmal saukomisch, manchmal eher blöd, selten peinlich, und in der heutigen Zeit wahrscheinlich für Jugendliche ein „alter Hut“. Tolle Schauspieler, allen voran Carla Juri und Meret Becker, schöne Kamera und einige recht lustige Animationen.
Der bisher schönste Film des Festivals kommt aus Mexiko, „Los insólitos peces gato“ (Die unglaublichen Katzenfische) von Claudia Sainte-Luce. Der Film ist lustig, traurig, grell, warmherzig und wunderbar gespielt, und, er schafft das, was hier in den letzten Tagen immer wieder beschworen wird, er hat die Magie, die es braucht, damit all diese Emotionen von der Leinwand zum Publikum überspringen. Es geht um eine an HIV sterbende Mutter mit ihren 4 Kindern von 4 verschiedenen, abwesenden, Vätern, und um eine jungen Frau, die plötzlich mittendrin ist, in dieser manchmal entnervend lauten, chaotischen Familie, die im Lauf des Films zu ihrer Familie wird. Aber es ist nicht so sehr die Geschichte an sich die berührt, sondern die Gesamtheit der Darsteller, der Kamera, des Rhythmus in dem man ganz selbstverständlich mitschwimmt. Am Ende gab es minutenlangen Applaus von einem Publikum, das glücklich und mit etwas verweinten Augen aus dem Kino in den Sommernachmittag schwebte.