Auch wenn bei den diesjährigen Leoparden von Morgen manches nicht überzeugen kann, tauchen doch immer wieder Perlen auf. So zum Beispiel „6 stora fiskar“ (6 grosse Fische) von Stefan Constantinescu. Ein schwedische Künstlerpaar in Bukarest bekommt unerwartet eine Tüte voller lebender Karpfen geschenkt, und schwankt in Folge zwischen meucheln und in die Freiheit entlassen. Ihre Versuche die Fische zu töten, ohne sich die „Finger schmutzig“ zu machen scheitern kläglich, die Karpfen erweisen sich als erstaunlich zäh.Während sie alles mit ihrer Videokamera dokumentiert, versucht er einen Ort zu finden, an dem die Tiere zurück ins Wasser können. Absurde Momente, festgehalten mit der Kamera, Diskussionen darüber, ob das Töten oder eher das Freilassen der Fische als Kunst gilt, alles in flottem Tempo und -häufig – subjektiver Kamera gedreht: schön. Im selben Programm „Z1“ von Gabriel Gauchet. Eine subtile Geschichte, die zunächst klein anfängt. Ein Scheidungskind, das sich dem Streit seiner Eltern durch obsessives Videospielen oder Fernsehen entzieht, entpuppt sich im Verlauf der Geschichte als Zombie, der zunächst den Familienhund, dann den Liebhaber der Mutter beisst und „ansteckt“. Der Film ist so geschickt konstruiert, dass man keine der Wendungen wirklich kommen sieht und das bis zum allerletzten Bild. Ok, das ist nicht nett die Geschichte zu verraten, aber, nachdem Kurzfilme, leider, so selten ins Kino kommen, hoffentlich verzeihlich
Horror- und Sciencefictionfilm der ganz anderen Art „Real“ von Kiyoshi Kurosawa, weil seine Freundin im Koma in einem Hightech Krankenhaus liegt wird ihr Freund an eine Maschine geschlossen, über die er, in ihrem Unterbewusstsein, Kontakt mit ihr aufnehmen kann. Und so werden selbst die klaren Linien japanischer Räume zu Labyrinthen, in denen Unerwartetes auftaucht, und für reichlich Schrecken sorgt. Aber immer mehr verwischen die Ebenen, bis niemand mehr weiss, welcher Raum, welche Figur zur „echten“ Welt gehört, und welche nicht. Ziemlich spannend, schöne und auch originelle visuelle Effekte, Drehungen und Haken in der Geschichte, bis zu etwa 2/3 des Films, dann taucht neben einem Urzeitmonster, auch plötzlich der grosse Kitsch auf, und steuert, gnadenlos, auf ein enttäuschend süssliches Ende zu.
Apropos visuelle Effekte, der Ehrenleopard des Abends geht an Douglas Trumbull, dem zu Ehren auch einige seiner Filme laufen.
Ausser Konkurrenz, in der Reihe Appellation Suisse ein Dokumentarfilm über den phantastischen Harry Dean Stanton „Harry Dean Stanton: Partly fiction“ von Sophie Huber. Interviews mit Stanton und Weggefährten in kontrastreichem Schwarz-Weiss, Stanton unterwegs, Nachts in Los Angeles, in verwaschenen, zerfliessenden Farben, und viele Filmausschnitte, zeigen den Facettenreichtum dieses Schauspielers, der, selbst wenn er nur auf einem Stuhl sitzt und nichts sagt, jeden Film sehenswert macht.
Erstaunlich viele Filme dieses Jahres haben Liebe, von romantisch über komödiantisch bis dramatisch, und Familie, biologische, erweiterte, fehlende, zum Thema, die meisten schaffen auf dieser Basis interessante, bewegende, starke Filme, aber manchmal gelingt das irgendwie nicht ganz so gut. „Forty years from now yesterday“ (Gestern in 40 Jahren) von Robert Machoian und Rodrigo Ojeda-Beck zählt leider eher zur Rubrik „nicht ganz so gut“. Die Idee an sich ist nicht schlecht, eine, Familie, alles Laien, spielt die Situation unmittelbar nach dem plötzlichen Tod der Frau und Mutter. Der Schock beim Finden der Leiche, die Verzweiflung, das Gelähmtsein. Leider spielt eine – glücklicherweise – lebende Darstellerin, ihr totes Alterego, und das bis hin zum Waschen, anziehen und für en Sarg fertigmachen, und das funktioniert dann gar nicht mehr, und auch wenn die gesamte Situation wirklichkeitsnah wiedergegeben wird, wirkt alles falsch und unecht.
Auf der Piazza dann wieder ein Abend mit Doppelvorstellung, dafür ohne Ehrenleopard. Erster Film „Mr. Morgan’s last love“ von Sandra Nettelbeck. Familie, Liebe, Tod, Paris und ein tolles Darsteller Ensemble, Michael Caine, Clémence Poésy, Justin Kirk und Gillian Anderson, 116 Minuten, die einem nie lang werden, Dialoge, die auch dann nicht lähmen oder in Zuckerguss festkleben, wenn es um Gefühle geht. Rabiater mit Gefühlen und Familie geht es im zweiten Film des Abends zu.„Blue Ruin“ von Jeremy Saulnier ist eine wüste Geschichte um Rache, eigentlich schon fast Blutrache. Anfangs bringt ein relativ verwahrloster Mann den, gerade aus dem Knast entlassenen, Mörder seiner Eltern um, dieser Mord wiederum bringt dessen Familie auf den Plan, und so stolpert, der etwas naiv, verwirrte Antiheld durch eine wahre Blutorgie, bei der es keine Gewinner geben kann.
Gewinner in Locarno gibt es dann am Samstag Abend auf der Piazza Grande.