Die „Jagd“ auf die Leoparden wurde eröffnet, wie immer vielsprachig, eloquent und mit politischem Engagement seitens des Festivalpräsidenten Marco Solari. Eigentlich beschwört er jedes Jahr die Freiheit der Kunst, aber dieses Jahr tat er es gezielt in Richtung politischer Parteien. Der Hintergrund: der Künstlerische Direktor Carlo Chatrian hat „gewagt“ Roman Polanski nach Locarno einzuladen. Kaum wurde das bekannt, begann auch schon das Geschrei gegen das sich Solari vehement ausgesprochen hat. Einmütig polemisierten die Schweizerische Volkspartei und die Christliche Partei, forderten die Rücknahme der Einladung, wollten etwas tun, was sie nicht tun könne: Einfluss nehmen auf künstlerische Entscheidungen eines Filmfestivals. Harsche Worte fand Solari, erklärte aber auch, dass Diskussionen, auch kontrovers geführt, durchaus dem Geist dieser Freiheit entsprächen, aber niemals Einmischung, gar Zensur, und dass er als Präsident des Festivals hinter Chatrians künstlerischer Freiheit steht. Diskussion beendet, Festival eröffnet, und am 14. August wird Polanski als Ehrengast auf der Bühne der Piazza Grande stehen.
Mit Luc Bessons „Lucy“ erlebten 8.400 Zuschauer auf der Piazza ein blutig-lautes, spannendes und im Hintergrund esoterisches Kinospektakel. Den Reigen der Ehrenleoparden eröffnete Jean-Pierre Léaud, der sich artig und ein wenig klapprig bedankte.
Das Festival hat in diesem Jahr eine neue Sektion eingeführt „Signs of life“, neue Erzählformen und innovativen Ausdrucksformen sollen dort gezeigt werden;
Also Tag 1, erster Film: „Fils de“ von HPG (Hervé Pierre Gustave) .
Mit sehr viel Witz, Charme und auch Frechheit erzählt der Film vom Versuch des Pornofilmregisseurs HPG sich aus dieser Branche zurückzuziehen, damit er seinen Kindern die Frage „was arbeitest du eigentlich, Papa?“ nicht mit „ich drehe Pornos“ beantworten muss. Der Film benutzt die Mittel, die man aus (schlechten) TV Reportagen bei Privatsendern kennt, also Kamera immer mittendrin, Gespräche, Streitereien zwischen den Personen, um die Gedanken zu transportieren etc. das volle Programm, bloss: der Film ist dabei einfach klasse! Dialoge wirken nicht gestellt, sondern natürlich, Szenen bei den Pornodrehs sind gleichzeitig so geschickt gedreht, dass man weiss was gerade geschieht, und dennoch nichts wirklich sieht und das ohne dass es albern wirkt. Eine der irrsten Szenen ist, wenn HPG bei einem befreundeten Musiker in einer Pantomime vorführt wie er seine Kindern das Fläschen gibt, die Windeln wechselt, sie anzieht, in einer langen, stillen Sequenz gedreht, untermalt vom Musiker mit seiner Mundharmonika. Hoffentlich verbergen sich in dieser neuen Sektion noch mehr solche Filme.
Ein bisschen zu sehr „alles wird wieder gut“ im Kurzfilm „Thirst“ von Rachel McDonald, Melanie Griffith als alte Trinkerin ist super, die Kamera ist sehr schön, der enge Kneipenraum, in dem sich die Geschichte grösstenteils abspielt, schick-schmuddelig, aber irgendwie menschelt es zu viel. Billy, jung, niedlich arbeits- und perspektivlos, entscheidet sich gegen den Sprung von der Brücke, und bekommt, weil er so traurig schaut, einen Job als Aushilfsbarmann in einer Kaschemme, und Stück für Stück findet er ins Leben zurück, weil er erkennt, dass er anderen helfen kann, dass andere ihn, womöglich, brauchen. Ja, nett, aber…
Ungleich sperriger ist „Shipwreck“ von Morgan Knibbe, eine Art Kollage aus Bildern, Tönen, Musik und einem kurzen Off-Monolog, gedreht als im vergangenen Jahr vor Lampedusa 360 afrikanische Flüchtlinge ertranken. Die Beklemmung, grenzenlose Trauer und Verzweiflung mischen sich in starken visuellen Eindrücken von zwangsläufig mechanisch ausgeführten Handlungen, wie dem verladen der Särge, Absperren des Gebiets durch die italienische Polizei. Beeindruckend vor allem, weil der Regisseur schafft den Zuschauer mitten hinein zu bringen, in eine Situation, die jeder aus den Nachrichten kennt, sich ihr aber hier nicht entziehen kann.
„Lystopad“ von Masha Kondakva ist klassisch, ruhig, schön . Es dominieren trübe Farben in einem Randbezirk von Kiew, eine Hausmeisterin bei der Arbeit, sie sortiert Müll, reisst aus einer weggeworfenen Zeitung ein Bild von einem Sonnenuntergang raus, harkt Blätter, und trifft dabei auf einen Mann, der sie überredet ihn mit nach Hause zu nehmen. Zwei scheinbar einsame Menschen, einer vielleicht ein Mörder, finden für den sprichwörtlichen Augenblick zusammen und zur Ruhe, finden einen Moment Glück – vielleicht.
„Frère et soeur“ von Daniel Touati, ein 60 minütiger Dokumentarfilm, destilliert aus 100 Stunden Material, entstanden über anderthalb Jahre, über ein Geschwisterpaar. Reduziert wird nicht nur die Fülle des Materials auf eine eher kurze Länge, sondern auch die Perspektive, die Kinder – 6 und 8 Jahre – sind immer im Zentrum, Eltern und Grosseltern sind bestenfalls zu hören, nie zu sehen, die Alltagsschnipsel zeugen von der Geduld des Regisseurs, und belohnen ihn sowie das Publikum mit authentischen, kitschfreien und komischen Situationen, in denen die Kinder die Kamera völlig zu vergessen scheinen.
Ein neuer Abend, ein neuer Star auf der Piazza, Armin Müller-Stahl verzaubert das Publikum mit einem Gedicht und zeigt so mit nichts als Stimme und Präsenz, wie sehr er diesen Leoparden verdient.
„Dancing Arabs“ von Eran Riklis erzählt von Eyad, dem jungen Palästinenser, der als einziger Araber in einem jüdischen Internat in Jerusalem angenommen wird. Und während die gesamte Bandbreite an möglichen Konflikten auf allen Seiten präsent sind, ist es auch ein Film über Liebe und Freundschaft, über Erfolg und Misserfolg und die verschiedenen Formen von Toleranz und Intoleranz.
Insgesamt ein vielversprechender Auftakt.