Tag 2 beginnt lahm, und endet bunt
„Sud Eau Nord Déplacer“ von Antoine Boutet beginnt vielversprechend, weite chinesische Landschaften, Wüste, gigantische Baustellen, winizig anmutende Menschen neben riesigen Bohrköpfen. Ein Projekt, das noch von Mao in den 50ger Jahren angedacht wurde, ist, 50 Jahre später, soweit, dass es in die Tat umgesetzt werden kann. Wasser aus dem wasserreichen Süden, soll in den wasserarmen Norden umgeleitet werden. Ein gigantomanisches Projekt, bei dem Landschaften verändert, Menschen umgesiedelt, das Gesicht Chinas verändert werden soll; geplante Bauzeit: 50 Jahre. Gut sind alle Passagen, in denen der Film nur beobachtet, neugierig aber ohne sich einzumischen, doch irgendwann kommen sprechende Köpfe dazu, die viel zu oft ein und das selbe mehrfach sagen, plötzlich will der Film werten, gibt dafür dem Zuschauer aber nicht genug Information sich selber eine Meinung zu bilden, und verliert damit deutlich an Kraft, überzeugt einfach nicht mehr.
Wind, Wasser und Langeweile bringt „Ventos de Agosto“ von Gabriel Mascaro. Ein abgelegenes Dorf irgendwo in Brasilien, das Meer tobt, der Wind wird immer stärker, Erosion bedroht die Küstenlinie, und vom nahe am Meer gelegene Friedhof spült es dadurch immer wieder Schädel und Knochen aus. Die wenigen Bewohner arbeiten in den Kokusnussplantagen, reden wenig, langweilen sich. Es fällt schwer irgendeinen Form von Beziehung zu den Figuren aufzubauen, und so herrscht trotz mancher sehr schönen Bilder, Langeweile auf beiden Seiten der Leinwand.
Vielversprechend die erste Runde der schweizerischen Leoparden von Morgen, zum Beispiel: „Totems“ von Sarah Arnold, eine starke Geschichte um eine junge Frau und ihren Grossvater, und die vergrabenen Knochen seines Vaters, eines Soldaten aus dem ersten Weltkrieg. Während der Grossvater im Altersheim sich immer mehr in einem bockigen Wahn versteckt, versucht die Enkelin die Knochen im verwilderten Garten zu finden, um diese vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Privates Erinnern versus staatliches Heldengedenken.
„Peau“ von Marne Koenig ist ein sehr persönlicher, experimentell gestalteter Film, Nahaufnahmen von Haut, tätowiert, verletzt oder nur alternd, nah und abstrakt, und dann die selben Aufnahmen auf eine improvisierte, faltige Leinwand projiziert, drumherum Räume, die Regisseurin, Gedankenfetzen, Erinnerungen; visuell sehr spannend, und für einen ersten Film sehr gelungen.
Und dann kommt er doch, der Regen, der die ganze Zeit an den Bergen klebte, und verlagert die Weltpremiere einer sommerlich bunten Komödie von der Piazza Grande ins Fevi Kino. „Love Island“ von Jasmin Zbanic, knallige Farben, Sonnenschein, ein Ferienklub in Kroatien und eine Liebesgeschichte, die immer mehr Facetten und Beteiligte bekommt. Ein Paar, sie: hochschwanger, Französin , er: Bosnier, Ferien am Strand in Kroatien, eine weiter Frau: Rumänin, die ehemalige grosse Liebe der Französin, und schon bricht ein grosses Durcheinander aus; wer liebt wen? am meisten? für immer? Immer haarscharf an Kitsch und Klischee vorbei tanzend, mit vielen hübschen Details, Franco Nero als ältlicher Lebemann, Gesangseinlagen, Sprachgewirr, tolle Schauspieler und ein überdrehtes, fulminantes Ende. Die zweite Komödie des Abends „ Die Angst des Killers vor dem Schuss“ von Florian Mischa Böder fällt dagegen etwas ab. Eine europäische Spezialagenten Truppe, jeder lebt sein Undercover-Leben und wartet auf den Anruf, der endlich einen Auftrag bringt, aber nichts geschieht, 8 lange Jahre nicht. Grotesk exakt halten sich die Agenten an ihre Anweisung, und versagen deshalb auch kläglich, als dann tatsächlich ein Auftrag kommt. Mit etwas mehr Vertrauen in die Geschichte und die Spielkunst Benno Führmanns, wäre das ein toller Film, aber statt dessen wird das Spiel überzeichnet, und die Groteske verliert an Brillianz. Unterhaltsam ist der Film dennoch.
Tag 3_ Regen stört im Kino nicht oder Sex riecht nach Maschinenöl
„La creazione di significato“ von Simone Rapisarda Casanova, ein Bergdorf in der Tosakana, einerseits Geschichtsbeladen, hier kämpften Partisanen gegen SS, noch heute sind Waffen und Patronen im Boden zu finden, andererseits eine Gegend ruhig und idyllisch; ein älterer Bauer wird begleitet bei seinen kleine alltäglichen Arbeiten, abwechselnd detailreiche Nahaufnahmen, Insekten, der grasende Esel, Gespräche mit Nachbarn, mit einem Studenten, der über die Gegend forscht.Versuche sein Land, sein Haus zu verkaufen, zu wenig ist mit so einem kleinen Hof mehr zu verdienen. Die Geschichte ist immer wieder präsent, aber sie wandelt sich auch, ein junger deutscher Familienvater, der in Italien lebt, kommt endlich als Käufer in Frage, in schöner Einigkeit sitzen beide am Tisch, trinken Wein, reden über Politik und Kinder. Geschichte muss sich nicht wiederholen.
„Fidelio, l’odysée d’Alice“ von Lucie Borleteau, eine schöne Frau als Bordmechanikerin auf einem Containerschiff, das klingt zunächst nach ödem Klischee, Frau/Männerwelt/Sexismus, aber nein, an sich ist es „nur“ eine Liebesgeschichte, zu welchem Mann gehört Alice? Zu ihrem jetzigen Freund, der an Land auf sie wartet, oder doch zu ihrer ersten Liebe, den sie unerwartet als Kapitän auf dem Schiff wiedertrifft? Dazwischen, eine Art Antiklischee- Geschichte, was die männlichen Besatzungsmitglieder machen, macht sie auch, scheitert nicht an ihrer Aufgabe, nicht an ihrer Position, sondern wenn, ganz unspektakulär daran sich,womöglich, zwischen zwei Männern entscheiden zu müssen.
„Hold your breath like a lover“ von Kohei Igarashi, ein bisschen Science Fiction, immerhin ist der Film in der nahen Zukunft angesiedelt. Ein bisschen Geistergeschichte, ein Hund und, mindestens, zwei Verstorbene bevölkern neben einer Handvoll Arbeiter einer Verbrennungsanlage kurz vor Silvester. Jeder der Arbeiter scheint einen guten Grund zu haben die leeren Betongänge und ungemütlichen Büros, einem zu Hause vorzuziehen, und so treffen die Einsamen in wechselnden Konstellationen aufeinander, reden kurz und kryptisch, und schleichen weiter, zombihaft. Und mittendrin, ein Hund, den alle suchen, den keiner findet, und Gestalten, die keiner zu sehen schient, obwohl sie mit im Raum sind. Ein bisschen unheimlich, ein bisschen unverständlich, ein Traum oder eine Geistergeschichte, oder ein Science Fictionfilm, die Sprache der Bilder passt zu jeder Variante.
Der Regen hat, vorübergehend, nachgelassen, und so findet die Premiere von „Hin und weg“ von Christian Zübert unter freiem Himmel statt. Gut gemacht ist der Film, traurig ist er, geht es doch um nichts weniger als Abschied, Abschied von einem Freund, der sich, wegen einer unheilbaren Krankheit für Sterbehilfe entschieden hat. Klingt entsetzlich nach Betroffenheitskino, ist es aber nicht, sicher auch dank der sehr guten Darsteller. Eine letzte Radtour, von Frankfurt nach Oostende, Abschied in Etappen, aber auch eine Geschichte von Freundschaft, vom Überwinden eigener Grenzen, erzählt mit viel Humor ohne das unausweichliche Ende dabei aus den Augen zu verlieren oder zu verkitschen.
In seiner zweiten Saison hat Carlo Chatrian seine letzte Unsicherheit abgelegt und überzeugt mit Witz und Wissen, geht fröhlich über seine Verhaspeler hinweg und zeigt sich als eloquenter Gastgeber, der soweit ein interessantes Programm zusammengestellt hat, in dem, entgegen dem Trend andere Festivals, eine grosse Anzahl Regisseurinnen vertreten sind.