Locarno2014_ Schalk im Nacken einer grossen, alten Dame

(c) ch.dériaz

(c) ch.dériaz

Tag 4 erweist sich, trotz strömenden Regens als Tag der Filmperlen.

11 Uhr Vorstellung, eher mit mässiger Begeisterung ausgesucht ist, die erste wunderbare Überraschung. Der erste Langfilm von Damien Manivel „Un jeune poète“ ist eine Geschichte vom Suchen, vom Erwachsenwerden. Ein 18 jähriger Junge, schlaksig, irgendwie ungelenk, tappt durch sommerliche Sète, sucht Inspiration für seine zu schreibenden Gedichte. Am Grab Paul Valérys, am Meer, in leeren Gässchen der Stadt, aber die Muse scheint ihn zu ignorieren, dabei ist jedes Szene, jede Situation in sich ein Gedicht, von tragisch-romantisch über impressionistisch, surreal bis zu punkig. Sehr schöne Bilder, wobei die Kamerafrau von sich sagt, sie sei eigentlich gar keine Kamerafrau, ein junger Darsteller, der gerade erst das Abitur gemacht hat, und dennoch überzeugend selbst in ganz kleine Gesten, ist rührend zerbrechlich oder linkisch; sein Spiel zeugt entweder von ganz grossem Talent, oder von sehr grossem Vertrauen in den Regisseur. Am Ende findet er nicht die Inspiration für DAS Gedicht, aber immerhin den Anfang seines Weges zu dem was man so gemeinhin das Leben nennt.

Auch „Perfidia“ von Bonifacio Angius ist eine angenehme Überraschung, eine triste Vater-Sohn Geschichte, in einer tristen sardischen Vorstadt, Bilder wie permanentes Regenwetter. Der Sohn, 35, anscheinend nicht nur ohne Arbeite, sondern auch ohne jegliche Ausbildung, hängt mit Kumpels rum die wie er nichts weiter zu tun haben im Leben, ein alter, despotischer Vater, mit der Attitüde des Machers, der plötzlich entdeckt, dass sein Sohn keine Ziele, keine Perspektive hat und versucht ihn, reichlich spät, auf eine bürgerliche Bahn zu bringen. Es passiert nicht viel, die Dialoge sind eher kurz, lakonisch, deprimierend, und doch, ein Film mit dem sich wohl fühlt.

Von Fernand Melgars Filmen weiss man, dass sie politisch sind, und sie ziehen immer das Publikum ins Kino; kein Wunder also, dass Melgar vor der Premiere seines neuen Films „L’abri“ seiner Wut und seiner Scham angesichts der Missstände im Umgang mit Migranten, Staaten-und Obdachlosen und der kontraproduktiven Haltung einiger schweizer Politiker, in einer starken Rede Ausdruck verleiht. Doppelt stark wirkt diese Rede, da Carlo Chatrian sie in englischer Übersetzung vorliest; Kunst ist nicht unpolitisch. Der Film ist der Anschluss der Trilogie über Migranten in der Schweiz, gezeigt werden Menschen, die den Winter über in einer städtischen Notschlafstelle unterkommen, einem Zivilschutzbunker in Lausanne. Der Bunker platzt aus allen Nähten, maximal 75 Menschen pro Nacht haben dort Platz, und jeden Abend versammeln sich mehr als man reinlassen kann. Das soziale Klima in Europa wird immer rauer, und so vielfältig sind auch die Gründe wegen derer Menschen sich auf der Strasse wiederfinden. Melgar beobachtet, wie immer, ohne zu werten, dreht monatelang, um dann aus mehr als 120 Stunden Material einen 100 Minuten Film zu kreieren, der filmisch stimmig ist, und das Publikum nachdenklich entlässt.

Dass Chatrian nicht nur völlig selbstverständlich ein politisches Statement unterstützt, sondern auch eine komödiantische Seite hat, kann man am Abend auf der Piazza sehen. Die grosse Agnès Varda soll einen Ehrenleoparden bekommen. Auf die Bühne tritt eine der ganz grossen europäischen Filmemacherinnen, eine kleine 86 jährige Frau mit dem benehmen einer frechen Göre, sie zerlegt in Windeseile den Ablauf der Zeremonie, treibt Scherze, stülpt sich einen, viel zu kleinen, Leoparden-Overall über, und Chatrian spielt mit; eine showreife Komikernummer, die viel Applaus erntet.

Der Film des Abends „Marie Hurtin“ von Jean-Pierre Amèris ist dann wieder eine echte Überraschung. Die Geschichte liest sich eher wie ein fürchterliches Kitschdrama, ist aber schöner, warmherziger Film. Im 19. Jahrhundert kommt ein blind-taubes junges Mädchen in die Obhut eines Kloster, das auf die Erziehung taub-stummer Mädchen spezialisiert ist; eine Schwester nimmt sich dieses völlig in sich verschlossenen Mädchens an, überzeugt, sie aus ihrer Isolation holen zu können. Wunderbar die junge Hauptdarstellerin Ariana Rivoire, die selber taub ist, sie spielt den Übergang von verwildert-verschreckt zu offen und kommunikativ mit grosser Überzeugungskraft, in oft sehr nahen, fast abstrakt wirkenden Bildern sieht man die Versuche Gebärdensprache auf der Haut „sichtbar“ zu machen; und ja, am Ende ist der Film dann trotzdem auch ein bisschen traurig.

Tag_5 Ursachen und Wirkungen

Durak“ von Yuri Bykov, dunkel, reich an Metaphern, die Kamera oft sehr nah und atmend. Ein neunstöckiges Wohnhaus droht einzustürtzen, glaubt zumindest ein junger Klempner und Statik Student, ein Unglück das leicht 800 Tote fordern könnte. Verzweifelt versucht er die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung zu überzeugen, das Gebäude räumen zu lassen. Aber absolut alle haben sich seit Jahren in einen Korruptionssumpf verzogen, aus dem es kein Entkommen gibt, und ausserdem leben in dem Haus ja „nur“ sozial Schwache. Jede scheinbare Wendung zum Positiven legt nur eine weitere Schicht an Machenschaften offen, keine Chance auf ein Happy End.

Cure- the life of another“ von Andrea Staka erzählt von zwei 14 jährige Freundinnen,1993, der Kroatienkrieg ist gerade vorbei, Linda war während des Kriegs in der Schweiz, Eta die ganze Zeit in Dubrovnik; sie laufen auf den Klippen herum, reden, scherzen, und streiten sich plötzlich, dabei verunglückt eine von beiden tödlich. Von Schuldgefühle gequält lässt sich Linda immer mehr in die Rolle der toten Eta drängen, verbringt immer mehr Zeit bei deren Mutter und Grossmutter, die den Tod soweit verdrängt dass sie Linda einfach als ihre Enkelin behandelt. In ihren Tagträumen streitet sich mit der toten Freundin und verliert dabei sich selber. Aber der Film will zu viel, Identitätsprobleme eines Teenagers, Identitätszweifel durch Migration, und nicht zuletzt auch Identität eines nicht mehr existierenden Landes, in dem 1993 ein weiterer Krieg tobte.

„Es war einfach ein heisser Tag“, so begründet ein junger Mann seinem Psychiater gegenüber wieso er sich zwei Kugel in den Körper gejagt hat. Diese beiden Schüsse, „Dos disparos“ von Martín Rejman, sind nur der Anfang, eine Reihe von eigenwilligen Geschichten ereignen sich im Umfeld des Protagonisten; eine Art langsamer Sommerblues in Buenos Aires, Geschichten beginnen, enden, oder auch nicht, reihen sich an andere, die ein Anfang sind, oder auch ein Ende. Und warum der junge Mann nach den Schüssen einen Doppelton beim Flöte spielen erzeugt bleibt unklar. Hat was, vielleicht, wenigstens wenn man sich mit den Bildern treiben lässt.

Weiterhin ein Programm das Spass macht, und bei dem man sich nicht zu ärgern braucht, dass das Wetter zu schlecht zum schwimmen im See ist.