Locarno2014_ Die Freiheit (nicht) nutzen ?

(c) ch.dériaz

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Eigentlich war doch alles klar, die Rufe der Polanski-Gegner konnten nichts bewirken , die Einladung blieb Sache der künstlerischen Leitung, und somit bestehen, und dann das: Roman Polanski zieht es vor nicht nach Locarno zu kommen, in einer E-Mail kündigt er an, auf Grund der Proteste nicht kommen zu wollen, um niemandem „zu Nahe zu treten“. Aber genau das tut er, er fällt denen in den Rücken, die seine Einladung gegen Proteste und versuchte Einflussnahmen durchgesetzt hatten. Das ist schade und das ist nicht gut.

Das Festival nähert sich langsam seinem Ende, Tag 6 beginnt mit zwei enttäuschenden Pardi di domani Programmen, im nationalen Programm ist nur ein Film von fünf erwähnenswert, der Animationsfilm „Aubade“ von Mauro Carraro. Wunderbar zarte Zeichnungen vom Genfer See in der Morgendämmerung, zarte Möwen schwimmen, fliegen, einzelne Schwimmer, die Uferpromenade, die Berge, und aus dem See steigt langsam ein Cello auf, mit jedem Ton wird es heller und mit der letzten Cellonote geht die Sonnen auf. Im internationalen Programm ist es der letzte von vier FIlmen, der allerdings belohnt für das Aushalten im Saal. „San Siro“ von Yuri Ancarini zeigt wie das Mailänder Fussballstadion für ein Spiel vorbereitet wird. Kein Zentimeter Rasen ist zu sehen, dafür, noch im Morgengrauen und bei Regen, das Aufstellen der Drängelgitter, Kabelverlegen, Polizei die in jedem Klo nach Gefährlichem sucht, alles in spannenden Bildern, interessante Perspektiven, zügig geschnitten, die Arbeiten wie die Stadionarchitektur werden zelebriert, ohne dass das dabei Selbstzweck ist.

Dann gleich zwei sehr aussergewöhnliche und spannende Filme aus dem Programm cineasti del presente. Der malaysische Film „Lelaki Harapan Dunia“ von Liew Seng Tat ist in weiten Teilen eine freche Komödie, bei der einem dennoch das Lachen immer wieder im Hals stecken bleibt. Ein Holzhaus soll aus dem Dschungel zurück ins Dorf getragen werden, dafür müssen alle mit anpacken, ein schwieriges Unterfangen, das Tage dauern wird und bei dem die meisten Dorfbewohner zunächst mit Enthusiasmus mitmachen. Bis sie eines Nachts einen schwarzen Schatten im Haus sehen, ein afrikanischer Immigrant versteckt sich dort vor der Polizei, ab diesem Zeitpunkt herrschen Aberglaube und Missgunst im Dorf. Die Geschichte wird weiterhin leicht und locker erzählt, aber die Entwicklung von scherzenden, singenden Nachbarn zu einer neidischen, abergläubischen und letztlich gewaltbereiten Truppe ist erschreckend, und erschreckend universell.

Navajazo“ von Ricardo Silva ist ein Mosaik des Untergangs, der Anfang vom Ende, ein schon etwas fortgeschrittener Anfang, wenn man es recht betrachtet. Menschen, die am Rand von Tijuana leben, in aus Spielsachen gebastelten Hütten, in Zelten in einem betoniertem Flussbett, Drogen nehmen, billige, aber in ihrem Umfeld bekannte Filme produzieren, Pornofilmer, Actionfilmer, Menschen, die irgendwie überleben. Sie alle präsentieren sich, wie es scheint, in aller Offenheit, reden über ihre Träume, Wünsche, ihren Alltag, konsumieren vor laufender Kamera Drogen, oder spielen ihre Pornoszenen; Strukturiert wird der Film durch Kapitel, die wie eine Variante der Apokalypse klingen. Drastisch, manchmal hart an der Grenze dessen was man Lust hat anzusehen, vor allem weil der FIlm beides ist: vorgefundene Realität und Eingriff in die Realität, durch Präsenz,durch die Kamera, aber auch durch Konzept und Schnitt.

Der Film auf der Piazza ist dagegen wohl als seicht zu bezeichnen. Nichts desto trotz, gute Unterhaltung von Lasse Hallström „The Hundred-Foot Journey“. An sich weiss man nach 10 Minuten nicht nur wie der Film ausgeht, sondern auch ziemlich genau wie die Schritte dazwischen aussehen, tut der Sache aber keinen Abbruch. Also: indische Familie verlässt Indien, einer der Söhne ein Kochtalent, der Zufall lässt sie in einem französischen Nest stranden, wo sie ein ehemaliges Restaurant kaufen. Leider gibt es genau gegenüber schon ein Restaurant, geführt von einer zickigen, hochnäsigen Dame (wunderbar: Helen Mirren), und natürlich kocht dort auch eine hübsche junge Köchin…     Bitte umrühren: voilà – fertig

Tag_7 Antihelden

Christmas, Again“ ist Charles Poekels erster Film, eine Geschichte übers doch-nicht-Verzweifeln. An einem Stand irgendwo mitten in New York verkauft ein junger Mann Weihnachtsbäume, seine Schicht dauert von 21 bis 9 Uhr, aufwärmen, schlafen, Lichterketten lagern, das alles findet in einem kleinen Wohnwagen direkt beim Stand statt. An sich passiert nicht viel in dem FIlm, dafür ist er stilistisch interessant, viele Nahaufnahmen, immer wieder fast wie Actionszenen geschnitten, obwohl nichts weiter passiert, als das Bäume angepriesen, verkauft, oder bloss umgestellt werden. Eines Nachts trifft er auf einer Bank eine bewusstlose Frau, und trägt sie in seinen Wohnwagen. Die sich daraus ergebenden Missverständnisse unterbrechen sanft die Routine, auch die Routine des Selbstmitleids, in die der schweigsame Protagonist zu stürzen droht. Ein kleiner Film, der mit sehr wenigen Mitteln eine starke Empathie für seine Figuren schafft.

They Chased Me Trough Arizona“ von Matthias Huser funktioniert ähnlich. Ein Roadmovie, in dem ein wortkarger Mann den Auftrag bekommt Telephone aus Telphonzellen abzumontieren. Da er keinen Führerschein hat sucht er sich einen Fahrer, zusammen fahren sie durchs ländliche Polen, zwei schweigende Aussenseiter, umgeben von Landschaft. Das billige Cowboyheftchen, das beide lesen gibt den Rhythmus des einsamen Wolf vor, die Bilder erinnern an Bilder aus Western; der Abbau der Telephonzellen und der Western, Metaphern für eine vergangene Welt, an der die Figuren eigensinnig festhalten.

Den bisher grössten Applaus auf der Piazza bekam „Schweizer Helden“ von Peter Luisi. Ein Durchgangzentrum für Asylbewerber in den Bergen, an sich eine Endstation kurz vor der Abschiebung, dass man vor diesem Hintergrund eine Komödie machen kann, die weder idiotisch wird, noch sich über die Asylbewerber lustig macht klingt unwahrscheinlich. Funktioniert aber. Kurz vor Weihnachten soll es in dem Heim eine Art buntes Beschäftigungsprogramm geben, die dafür vorgesehen Leiterin fällt aus, es springt eine naive, aber engagierte Hausfrau ein. Ihr Versuch von den Gruppenmitglieder, zur Auflockerung, Helden aus deren Herkunftsländern darzustellen zu lassen scheitert, keiner versteht was sie eigentlich will. Was allerdings alle verstehen ist eine Kurzfassung der Willhelm Tell Geschichte,die sie ihnen erzählt. Das kennen sie, Unterrdrückung, Gewalt, Willkür, Flucht, Aufbegehren, und so entscheidet die Gruppe Willhelm Tell spielen zu wollen. Die eher inhomogene Gruppe wächst mit dem Stück zusammen, äussere Widerstände werden, meistens, fröhlich übergangen. Natürlich scheitert das Unterfangen nicht, der Film blendet trotzdem die Realität und die Probleme der Asylbewerber nicht aus, es bleibt auch klar, dass ein Theaterstück und guter Wille keine Problem lösen. Immer wieder Szenenapplaus und grosser Beifall am Schluss, das könnte gut ein Kandidat für den Publikumspreis gewesen sein.

 

(c) ch.dériaz

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