Das war er also, der Abend, an dem Roman Polanski auf der Bühne der Piazza hätte stehen sollen. Chatrian fasste nur ganz kurz zusammen was alle wussten, „Polanski hat abgesagt, wir respektieren das“ und bat dann um einen Applaus für den nicht Anwesenden; ohne Pfiffe, ohne Buhs, ein heftiger, einmütiger Beifall. Herr Polanski, Sie wären in Locarno sehr willkommen gewesen!
Aber zurück zum Anfang von Tag 8, Syllas Tzoumerkas „A Blast“ ist ein verwirrender, konfuser Film. Die Handlung erstreckt sich über etwa 10 Jahre, die nicht linear, sondern wild durcheinander ablaufen, das wäre an sich kein Problem, aber irgendwo gehen dabei weite Teile der Motive der handelnden Figuren verloren – oder tauchen gar nicht erst auf. Zentrale Figur ist eine Frau, Mutter von 3 Kindern, verheiratet mit einem Seemann, Hintergrund das wirtschaftlich zerstörte Griechenland. Alle Zeitebenen zeigen Aspekte, die letztlich dazu führen, dass sie sich dem Druck nur noch durch den völligen Ausbruch aus ihren bisherigen Leben entziehen kann. Aber ausser dem wirtschaftlichen Druck, massive Schulden, erzählen sich die anderen Einflüsse nicht, und so bleibt ihr Handeln unverständlich, ihre Motive unklar.
Eine Freude für Augen und Hirn dagegen „The Iron Ministry“ von J.P. Sniadecki, eine drei Jahre dauernde Feldstudie in chinesischen Zügen verschmolzen zu 82 Minuten Film. Atmosphärisch so dicht, dass man sich im Zug zu befinden meint, man kann förmlich die Enge spüren, man riecht die Menschen, ihr Essen, ihre Ausdünstungen, hört im Vorbeigehen ihren Gesprächen zu, und schaukelt im Rhythmus des Zuges durch eine endlose Landschaft. Spannend ist das, auch voyeuristisch und auf angenehme Art auch anstrengend.
„Los enemigos del dolor“ von Arauco Hernández, zeigt drei irgendwie aus dem Leben gefallene Gestalten, ein deutscher Schauspieler, ein uruguayischer Sicherheitsbeamte und ein alter Junkie, stolpernd durch die übelsten und verlassensten Gegenden von Montevideo. Eher zufällig bilden sie eine Art Bande von Helden, die, trotz Sprachbarrieren, im entscheidenden Moment gemeinsam einen Jungen aus den Händen eines pädophilen brasilianischen Pfingstlers retten und vorher noch die abgehauene Ehefrau des Deutschen aufspüren. Vorstellen muss man sich das allerdings nicht als Actionfilm, sonder eher als surrealen Alptraum in düsteren Bildern mit einer Prise lakonische-absurden Humors.
Auf der Piazza gibt es am Abend dann aber doch noch eine- vorgesehene- Ehrung, nämlich für „Mr.Steadycam“ Garrett Brown, ein Leopard und eine Verbeugung vor der Technik. Der Film des Abends „Pause“ des Schweizer Matthieu Urfer ist eine hübsche, kleine Liebesgeschichte, nicht wahnsinnig originell, aber durchaus mit Humor.
Tag_9 der Wettbewerb geht zu Ende
„Gyeongju“ von ZHANG Lu, ist einer der südkoreanischen Filme aus dem Wettbewerb. Lange, ruhige, fast leere Einstellungen, wenig Schnitte innerhalb der Szenen, was Anfangs etwas statisch wirkt, entwickelt mit der Zeit einen Erzählfluss, dem man folgt, auch wenn sich vielleicht nicht alle Chiffren und Metaphern erschliessen. Ein in Peking lehrender junger Professor kommt nach Korea zu einer Beerdigung und fährt in die historische Stadt Gyeongju, wo er Jahre vorher mit seinem verstorbene Freund war. Es ist eine Reise in eine Vergangenheit, die er nicht mehr wiederfindet, so sucht er nach einem Teehaus in dem damals ein erotischen Wandbild hing, was er dort jetzt findet ist die neue, junge Besitzerin , aber keine Spur mehr von dem Bild. Auf der einen Seite scheint ihn der Ort zu verwirren, auf der anderen erweckt er bei den Freunden und Bekannten der Frau Argwohn; Raum und Zeit der einzelnen handelnden Figuren scheinen sich nicht so recht synchronisieren zu lassen. Der Mann reist wieder ab, ohne zu erfahren, dass das Bild die ganze Zeit im Teehaus hinter einer Verkleidung hing.
Im letzten internationalen Programm der Leoparden von Morgen begeistern, ein italienischer und ein Kanadischer Film. „La baracca“ von Federico Di Corato und Alessandro De Leo besticht vor allem durch den Wechsel von Stil und Material, die meiste Zeit sieht man kollagenartig Bilder einer Hi8 Kamera, eine „subjektive“ Kamera von zwei Jungs, ein Kindersommer, vorbeirauschende Landschaft, kurze Blicke in andere Autos, Tonfragmente, und dann plötzlich, ein ruhiges „professionelles“ Bild, das Haus der Grossmutter, und wieder die Subjektiven. Durch dieses Stilmittel vermitteln sich auch die zum Teil grausamen Handlungen und Erlebnisse der Kinder ohne viele Worte aber mit grosse Intensität. „Hole“ von Martin Edralin behandelt ein Thema, das gerne ignoriert wird: Sexualität bei Menschen mit Behinderung. Kurz, direkt und eindringlich wird die Geschichte erzählt, von der Frustration in einer Pornokinokabine zwar an den durch ein Loch geschobenen Schwanz eines anderen zu kommen, es aber selbst nicht aus dem Rollstuhl zu schaffen, um sich den „Gefallen“ zurückzuholen. Bis er auf die Idee kommt, seinen Pfleger zu bitten mitzukommen, um ihn aus dem Stuhl zu heben. Gedreht fast wie ein Dokumtarfilm, wodurch eine grosse Klarheit und Objektivität für das Problem entsteht.
Der vorletzte Abend auf der Piazza bringt einen Ehrenleoparden für Juliette Binoche, den sie Gepard nennt, aber auch Armin Müller-Stahl hatte ein zoologisches Problem und hielt seinen Leoparden für einen Löwen.Es folgt „Sils Maria“ von Olivier Assayas, mit Juliette Binoche in einer der Hauptrollen. Hervorragende Schauspieler in toller Landschaft. Leider kommt die nicht wirklich zur Geltung, zu kurz und eigentlich nur wie „establishing shots“ eingesetzt fragt man sich wozu die Geschichte überhaupt im Engadin angesiedelt ist. Insgesamt bleibt der Film schwach, das Gefühl bleibt Schauspiel, die Schwierigkeiten der Figuren bleiben einfache Dialogzeilen, gut gesprochen, aber ohne allzu viel Leben; lustigerweise ist genau das im Film ein Text von Juliette Binoche „die Gefühle sind unecht, das kann ich so nicht spielen“.