Leoparden in Freiheit und anderes schützenwertes (Kultur-)Gut
Im Tessin sind wieder die Leoparden los. Geschützt, furchtlos, eigensinnig und mit einem frisch erhöhten Kulturetat, Leoparden, die sich nicht nur von Popcorn(Kino) ernähren, Filme für den kritischen Geist, Filme als „Absage an die Beliebigkeit“, so Festival Präsident Marco Solari in seiner Eröffnungsrede. Die Erwartungen sind hoch im sommerlich schwitzenden Locarno.
Eröffnet wurde das 68. Filmfestival, das 3. unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian, auf der rappel-vollen Piazza Grande, mit Jonathan Demmes „Ricki and the Flash“. Kein wahnsinnig intellektueller Film, aber insgesamt fröhliches Treiben, gewürzt mit Klassikern der Rockmusik, überschaubaren familiären Problemen, die am Ende – natürlich – eine, für alle Beteiligten, annehmbare Lösung erfahren. Ein sogenanntes „feel-good-movie“ nicht übermässig romantisch – zum Glück – aber auch nichts worüber man sich noch stundenlang den Kopf zerbricht, für einen Eröffnungsfilm auf der Piazza völlig in Ordnung; Intensiveres wird sicherlich folgen.
Tag 1
Intensiv, ja, aber intensiv langweilig der kambodschanische Film „Dreamland“ von Steve Chen. In den ersten 10 Minuten überrascht der Film mit schönen, interessanten Bildern, sehr grafisch, leicht wehende Gardinen, die der Strenge eines Raumes etwas verspieltes geben, Lichtreflexe von der Seite, die den Vordergrund teilweise abstrakt verschwimmen lasen, schön. Aber dann mutiert diese Handschrift zum Manierismus, scheint verliebter Selbstzweck zu werden, wird überstrapaziert, spätestens da fällt auf, dass die Figuren nicht viel zu bieten haben, ausser dekorativer und sprechender Teil der Bilder zu sein. Kein brillanter Start in einen Festivaltag. Sehr viel packender: „James White“ von Josh Mond. Am Anfang ist die Kamera ständig nah, rau, bewegt und frontal auf dem Protagonisten, wodurch ein Sog ins Innenleben der Figur entsteht, mitfühlen in sehr wörtlichem Sinn; anstrengend ist das, aber auch sehr spannend, eine geistige Subjektive. James White taumelt durch sei Leben, lässt sich hängen, säuft, grübelt, feiert, orientierungslos, bis bei seiner Mutter erneut Krebs festgestellt wird. Unmerklich beruhigt sich die Kamera, das Ich der Figur rückt zusehends in den Hintergrund, Aufgaben müssen bewältigt werden, seine Befindlichkeiten sind nicht mehr das Zentrum seines Universums, ein formaler und inhaltlicher Perspektivenwechsel der das Publikum mitreisst. Sehenswert.
Formal etwas unfertig, nicht ausgereift ist „Brat Dejan“ von Bakur Bakuradze, trotzdem ein interessanter Film. Ein ehemaliger serbischer General, seit Jahren untergetaucht, vom internationalen Strafgerichtshof gesucht, wird, auch aus Kalkül seiner politisch wieder aktiven Freunde, aus seinem, ungenannten, bisherigen Versteck gebracht, um in einem Dorf versteckt zu werden. Nicht die Frage der Schuld des Alten ( grossartig: Marko Nicolić) ist die Geschichte, sondern eher die selbstgewählte Isolation, um einer Strafe zu entgehen, die totale Abschottung von der Welt, die sich weiterbewegt hat, während er von der Vergangenheit festgehalten wird. Unausgereift sind Passagen, in denen sich Szenen, teilweise stumm, abspielen, von denen man im Verlauf erkennt, dass es Proben zu den Spielszenen sind,die später im Film wieder auftauchen. Visuell fallen sie aus dem Rahmen, mit eingeblendetem Timecode, Linien, die den Cach markieren, aber ihr Einsatz ist unrund und etwas beliebig. Genauso wie der Einsatz von Musik: plötzlich, vehement, ohne Notwendigkeit und ebenso plötzlich wieder vorbei. Oder: Szenen, die Flashbacks aus dem Krieg sind, tauchen verstreut im Film auf, meistens, aber nicht immer in 4:3 Format, manchmal, aber nicht immer in einer Art Super8 Ästhetik, und einmal unterbrochen von Regieanweisung, also komplett herausgenommen aus der Kontinuität des Films. Es wirkt als wäre einiges ausprobiert, und dann weder konsequent durchgehalten, noch schlüssig verworfen worden, mit etwas mehr Entschiedenheit in der Form wäre das ein sehr eindringlicher Film.
Bei weiterhin hochsommerlichen Temperaturen endet der Abend auf der Piazza Grande – nach der Verleihung von Ehrenleoparden an den russischen Regisseur Marlen Khutsiev und Office Kitano – mit „La belle saison“ von Catherine Corsini gefolgt von „Le dernier passage“ von Pascale Magontier. La belle saison, angesiedelt in den frühen 1970ger Jahren in Frankreich, die Anfänge der Frauenbewegung, Recht auf Abtreibung, Schwulen- und Lesbenbewegung, laut, bunt, aggressiv, und mittendrin eine junge Frau vom Land, die vielleicht etwas anderes will, als es in ihrem dörflichen Umfeld gibt. Die vor allem aber auch der Enge entfliehen will, die sie hindert ihre lesbische Liebe zu leben. In Paris scheint alles ganz leicht zu gehen, bis sie nach einem Herzanfall ihres Vaters zurück fährt. Wieder auf dem Land wird der Film langsamer, ruhiger, die Probleme allerdings wachsen an. Eine Entwicklungsgeschichte, die Entscheidung zu sich zu stehen auch gegen gängige Muster, die grossen gesellschaftlichen Änderungen, im kleinen, eigenen Leben zu integrieren. Dabei bleibt der Film leicht, erzählt flüssig und in schönen Bildern, getragen von tollen Darstellerinnen. Le dernier passage, 28 Minuten, ein Gang mit der Kamera durch die, aus Konservierungsgründen, nachgebaute prähistorischen Höhlen von Chauvet. Auf der riesigen Leinwand ein umwerfendes Erlebnis.
Insgesamt ein recht guter Festivaleinstieg; die gezeigten Filme, so Carlo Chatrian, sollen und wollen keine Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen, es wird sich zeigen in wie weit die Filme das erfüllen.