Locarno 2015_3

Tag_3 Slapstick und Monster

(c) ch. dériaz

(c) ch. dériaz

Hintern und Rücken rebellieren bei jedem Kontakt mit den harten Plastik-Kinositzen, da helfen auch die gratis Sitzkissen der Sponsoren nichts. Was allerdings, wenn auch nur kurzzeitig Abhilfe schafft, sind Vorstellungen, die nicht zum Wettbewerbsprogramm gehören: Retrospektive Sam Peckinpah, Semaine de la critique, Panorama Suisse. Eine physische Erholung wie auch eine grosse Freude ist deshalb: „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von Stina Werenfels. In der Schweiz und in Deutschland bereits gelaufen, kann man diesen Film über das sexuelle Erwachen einer geistig behinderten jungen Frau nur empfehlen. Die Borniertheit der ach-so-aufgeklärten Eltern, die Widerwärtigkeit ihres Liebhabers und die ungehemmte Lebensfreude Doras ergeben einen guten, interessanten und auch lustigen Film, ohne dabei den ernsten Hintergrund aus den Augen zu verlieren.

Das Program Pardi di domani, international, biete nichts wirklich sehenswertes, „I rember nothing“ von Zia Anger bildet eine Ausnahme. Eine Geschichte von einer jungen Studentin, der immer wieder Teile ihres Lebens fehlen, weil sie, ohne es zu wissen, an epileptischen Anfällen leidet, visuell relativ spannend erzählt, Bildausschnitte, die verwirren, strukturiert in den fünf Etappen, die einem epileptischen Anfall in der Medizin zugeordnet werden. Der bisher beste Film: “Schneider vs. Bax“ von Alex van Warmerdam. Er fängt an als konventionelle Geschichte von einem Auftragsmord, fröhliches Familienleben beim Killer zu Hause, bis das Telephon klingelt und er seinen Mordauftrag bekommt. Dringend sei der Auftrag, ein Kindermörder muss erledigt werden. Was dann kommt ist an Klamauk kaum zu überbieten. Das Opfer lebt in einer Hütte mitten mitten im Schilf, dessen Architektur eine perfekte Bühne für Auftritte und Abgänge wie in einem rasanten Slapstick bietet. Menschen tauchen durch eine Tür auf, während durch die andere welche raus komplementiert werden; Freundin raus, Tochter rein, Tochter weg, Vater mit neuer Freundin rein…. Das vermeintliche Opfer bekommt seinerseits den Auftrag den Killer zu töten, und immer mehr Menschen erscheinen und stehen im Weg. Die Komik entsteht vor allem durch die Ernsthaftigkeit mit der die Figuren bei ihren Rollen bleiben, jeder bemüht seinen Auftrag zu erfüllen, und das was für den Zuschauer wie Komödie wirkt, ist für die Figuren nur ein kleines Hindernis auf dem Weg zum Erfolg. Gewürzt ist das ganze dann noch mit zum Teil irren Dialogen, und Freunde des Hitman-Genres werden trotzdem nicht um ihre Komplotte und Leichen betrogen; einfach wunderbar!

Der Nachtmahr“ von AKIZ ist laut, spannend, originell. Das Leben der 18 jährigen Julia besteh neben Schule aus Partys, Drogen und Musik, aber irgendetwas scheint sie zu ängstigen. Ein Unfall geschieht, oder ist sie nur ohnmächtig geworden? Und was lauert in der Küche? Was anfängt wie eine Teenager Horror Story, entwickelt sich zu einer dunklen, aber sehr liebevollen Annäherung an das verborgene Selbst. Der Nachtmahr, der Julia heimsucht, erinnert an Golum, schmatzt und grunzt und verliert zusehends seinen Schrecken für die Protagonistin, entfernt sie dabei aber immer weiter von ihrem bisherigen Umfeld. Ruhige Phasen, in denen sie sich zwischen lähmender Angst und Neugier bewegt werden unterbrochen von Partys mit hämmernder Musik, und während die Eltern und Freunde Julia immer mehr für verrückt halten, wird sie immer selbstbewusster. Ein Film mit Sogwirkung und einem eher offenen Ende.

Trainwreck“ von Judd Apatow, auf der Piazza Grande „geschwänzt“, den letzten 10 Minuten nach zu urteilen eine entbehrliche romantische Komödie. Der Mitternachtsfilm: „Jack“ von Elisabeth Scharang über den Frauenmörder, Frauenliebling und Dichter Jack Unterweger. Eine Annäherung an eine sowohl charismatische wie auch gefährliche, impulsive Person, einer der sich aus miesen Lebensumständen immer wieder herausgeholt hat, um dann noch ein Stück weiter darin zu versinken. Sehr gut gemacht, schön gedreht, mit tollen Darstellern, wenn auch Johannes Krisch als Jack zu wenig körperliche Präsenz hat, schade, da genau das eigentlich eine seiner Stärken ist.Leider verleitete der einsetzende Regen viele Zuschauer kurz vor Ende des Films die Pliazza fluchtartig zu verlassen.

 

Tag_4 Anarchie und Tränen

(c) ch. dériaz

(c) ch. dériaz

Le grand Jeu“ von Nicolas Pariser ist ein ordentlich gemachter, hübsch gedrehter etwas dialoglastiger Film über ein politisches Komplott. Alte Linke, neue Linke, Frankreichs Innenminister auf Stimmenfang mittels härtere Antiterrorgesetzte, und ein etwas undurchsichtiger „Strippenzieher“, der ihn auf seinem Posten ablösen möchte. Oder doch einfach nur weiter Komplotte schmieden will? Für Fans der Gattung.

Ein durchgängig tolles Programm gab es bei den Pardi di domani bisher nicht, in der heutigen, internationalen, Ausgabe fielen zwei Filme positiv auf: „Mama“ von Davit Pirtskhalava, zeichnet ein einfühlsames Bild zweier Brüder in einem ärmlichen Viertel. Zwischen fast kindlichen Spielen mit der Mutter und nächtlichen Diebstählen, zu denen der grössere Bruder eine Waffe mitnimmt, und dennoch dominiert ein Wille nach Harmonie, nach „gut-machen“. Ein Film in dem vieles unausgesprochen bleibt, der aber eine grosse Wärme vermittelt. Von grossem Schmerz handelt der zweite Film: „Des millions de larmes“ von Natalie Beder. Ein älterer Mann liesst eine junge Frau, fast buchstäblich, am Strassenrand auf, bietet ihr an sie im Auto mitzunehmen. Die Frau ist misstrauisch, latent aggressiv, und auch vom Mann geht eine unterschwellige Wut aus, trotzdem bietet er ihr an ein Hotelzimmer für sie zu zahlen, sie weiterhin mitzunehmen. Als sie sich am nächsten Tag im Auto streiten, und das Mädchen aussteigt, dreht er wieder um, holt sie zurück, bittet sie ihn noch etwas zu begleiten. Doch alle Vorstellungen, die zu dieser Konstellation passen, erweisen sich als falsch; sind Illusionen eines Vaters auf dem Weg seine als Tramperin zu Tode gekommene Tochter zu identifizieren.

Te prometo anraquía“ von Julio Hernández Cordón, die versprochene Anarchie gibt es in diesem Film nicht. Dafür jede Menge skatende Jugendliche, die Geld verdienen, in dem sie Blutspender an eher suspekte Stellen vermitteln, Liebe, Eifersucht und Freundschaft. Bis dann ein besonders lukrativer Blutspenderdeal massiv daneben geht und das ganze fragile Gebilde von Spass und Gefahr zum einstürzen bringt, und die beiden Protagonisten, beste Freunde und Liebhaber, wohl für immer trennt. Der Film braucht etwas lang um Fahrt aufzunehmen, macht das aber dann mit zunehmender Spannung wett.

(c) ch. dériaz Michael Cimino

(c) ch. dériaz
Michael Cimino

Ehrengast des Abends Michael Cimino, der zunächst angesichts der Zuschauer schweigt, um dann viel und lang zu sprechen, übers Filme Machen über Lebenswege über Entscheidungen. Und dann die Leopardenskulptur als verbesserungswürdig u befinden, weil: sie sähe eher aus wie ein Hühnchen, als wie ein furchteinflössendes Raubtier! Sein ab Mitternacht gezeigter Film „The Deer Hunter“ hat womöglich weniger Zuschauer als er verdient, da seit kurz nach Mitternacht ein kräftiges Unwetter tobt.

Der erste Film des Abends auf der Piazza hatte dagegen mehr Glück. „Floride“ von Philippe LeGuay ist eine Vater-Tochter Geschichte, ein kauziger, zunehmend verwirrt werdender Vater, eine patente Tochter und der Versuch ihrer beider Leben und Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen ohne zu verzweifeln und ohne schlechtes Gewissen. Der Film hat viele gute, auch lustige Momente, aber er überrascht im Ablauf nicht, und so kommt es zu allen erwartbaren Reibungspunkten und auch zum erwartbaren Ende.