Tag_7 klirrende Wüste
Nach zwei Pardi di domani Programmen hintereinander ist die Ausbeute an Sensationellem weiterhin – leider – mager. „La impresión de una guerra“ von Camilo Restrepo ist eine Ausnahme. Der Film folgt den Spuren/Eindrücken/Abdrucken des Konflikts in kolumbianischen Medellin; verwaschene Zeitungsbilder und ihre moderneren Zwillinge, verwaschene, pixelige Handyfilme, zeigen wie unscharf Information über Bilder vermittelt wird und wie das im kollektiven Erinnern Spuren hinterlässt. Formal ist diese Suche nach Bildern, nach Eindrücken experimental, der Bogen, der alles zusammenhält sind die Analogien im Dokumentieren und Festhalten von Informationen. Eine wirklich interessante Arbeit.
Der Film mit dem längsten Titel ist auch der befremdlichste: „The sky trembles and the earth is afraid and the two eyes are not brother“ von Ben Rivers. Lose basierend auf einer Kurzgeschichte von Paul Bowles beginnt der Film dokumentarisch, ein Regisseur, der mal Spanisch, mal Französisch spricht, beim Dreh irgendwo in einer maghrebinischen Bergwelt, er wirkt etwas unzufrieden mit dem Verlauf des Drehs, lässt Szenen x-mal wiederholen, die Einheimischen Darsteller scheinen nur mässig begeistert. Dann plötzlich kippt der Film zur Fiktion. Der Regisseur folgt einem Mann in die Einöde, wird von diesem niedergeschlagen und gefangengenommen, und schliesslich in eine Art Vogelscheuchenkostüm, bestehend aus lauter Aludeckeln, gesteckt. Der Entführer und seine Helfer zwingen den Regisseur in seinem rasselnden Kostüm zu tanzen, schleppen ihn von Ort zu Ort, machen sich lustig über ihn. Ihre Motive blitzen ganz zu Beginn einmal auf, „du hast hier Ärger gesucht, jetzt hast du ihn gefunden“. In Bowles Kurzgeschichte geht es um den Kontrast der Kulturen, um kulturelle Überheblichkeit und Missverständnisse, was wohl auch die beste Zusammenfassung für den Film ist. In seiner ruhigen Bedrohlichkeit ist der Film durchaus sehenswert und auch spannend, aber eben auch sehr verwirrend. Extrem viele Zuschauer verliessen den Saal, und am Ende gab es Buh-Rufe. Eine technische Anmerkung, es ist dies der einzige Film auf dem Festival der als Filmkopie, und nicht als DCP, vorgeführt wird, sehr beruhigend für die Augen ist das.
Ein erstes mal wirklich tosender Beifall auf der Piazza, als am Abend, noch im Gang zur Bühne Bruno Ganz und Marthe Keller zu sehen sind, die beide in „Amnesia“ von Barbet Schroeder spielen. Ibiza 1990, die zurückgezogen lebende Martha bekommt einen jungen Berliner DJ als Nachbar, ihrer beider Welten werden durch diese Nachbarschaft nachhaltig durchgeschüttelt werden. Martha, die sich seit dem sie 1936, mit 16 Jahren Deutschland verlassen hat weigert Deutsch zu sprechen, Jo, der seine Familie mit neuen Augen sehen wird. Ihre Annäherung ist zögernd, langsam,und etwas spröde, so wie das Schulenglisch, das beide zur Sprache ihrer Kommunikation wählen. Einige Wendungen in der Geschichte werde etwas plump hervorgezaubert, es wird zeitweilig zu viel geschwafelt, aber insgesamt ziemlich gelungen.
Tag_8 Geister und Killer
„The ground we won“ von Christopher Pryor läuft in der Semaine de la critique, ein neuseeländischer Dokumentarfilm aus einer fremden, exotischen Welt. Ein liebevoller Blick auf Rugby, Milchwirtschaft, Saufen und Rituale. Kontrastreiche Schwarz-Weiss Bilder, von teilweise poetischer Schönheit, zeigen starke, brüllende, saufende, schuftende Männer. Frauen kommen nur ganz am Rande, als Zuschauer, vor, neuseeländisches Farmland scheint Machoterrain zu sein.
Das letzte Programm der pardi di domani, auch diesmal wenig Spektakuläres. „Shikuf“ von Osi Wald ist eine schöne, witzige Hommage an das Kino, entstanden im Rahmen eines Projekts „Liebesbriefe an das Kino“ ist eine teilweise animierter Film entstanden. Ein israelischer Schauspieler auf dem Weg Los Angeles, während er auf die Abfertigung des Fluges wartet, geht er seine Rolle durch, und der Film driftet in Anspielungen auf Fragmente der Filmgeschichte, mischt Animation- und Realbild und erzeugt ein Traumbild der Traumfabrik.
Alle Familien haben ihre Geheimnisse, so auch in „Les êtres chers“ von Anne Émond. Eine melancholische Familiengeschichte beginnend mit dem Selbstmord des Vaters. Über lange Zeit kennen nur zwei der fünf Geschwister die Todesursache, die Geschichte fokussiert auf einen der, unwissenden, Brüder und die Beziehung zu seinen Kindern, besonders zu seiner Tochter. Sehr schön wie ruhig das Vergehen der Zeit einfach über das Heranwachsen der Kinder erzählt wird, die Melancholie, die über der Familie schwebt, verdüstert sich, und steuert unmerklich und unausweichlich auf einen weiteren Selbstmord zu. Trotz allem ein schöner Film.
Ehrengast auf der Piazza Grande: Sounddesigner Walter Murch, der auch noch eine Masterclass zu Tongestaltung halten wird. Erster Film des Abends: „La vanité“ Lionel Baier, ein misslungener Film um einen assistierten Selbstmord, uninspirierte Bilder, lahme bis ärgerliche Geschichte, da hilft es auch nicht, dass die wunderbare Carmen Maura eine der Hauptrollen spielt. Aber, der Abend ist doch noch zu retten, nämlich mit: „Qing tian jie yi hao“ (The laundryman) von LEE Chung. Ein Erstlingsfilm, mit einem Feuerwerk an Einfällen wird da frech über alle Genregrenzen hinweg gemischt, Geistergeschichte, Auftragsmörder-, Detektiv-und Liebesgeschichte, plus asiatische Kampfkunst; teils bonbonbunte, teils nebelig-düstere Bilder, und ein Held, der nicht immer genau weiss, wo er steht, und dadurch liebenswert tollpatschig wirkt. Die letzten 10 Minuten wurden von plötzlich einsetzendem Regen begleitet, aber der Film ist es wert sich nassregnen zu lassen.