Wege ohne Wiederkehr
Fremde Welten, die man durch Filme entdecken kann, mal schön, mal spannend, manche verwirrend und einige nicht ganz verständlich, und doch mit einem gewissen Reiz, der nachwirkt. Am Tag 6 zum Beispiel Istirahatlah kata-kata (Solo, Solitude) von ANGGI NOEN Yosep. Vor dem Hintergrund der indonesischen Demokratiebewegung der späten 90ger Jahre erzählt der Film vom Dichter Wiji Thukul, der von der Regierung beschuldigt wurde Demonstrationen initiiert zu haben, die dem Umsturz dienen sollten. In sehr schönen, ruhigen Bildern, die oft spannende Perspektiven finden, wird der nach Borneo geflüchtet Dichter gezeigt, der nichts weiter tun kann, als sich versteckt und bedeckt zu halten, und parallel dazu seine auf Java geblieben Frau, die Polizeirepressionen und Schikanen durch Nachbarn ausgesetzt ist. Aber trotz der schönen Kamera und eines interessanten Konzepts bleibt das ganze etwas langweilig, möglicherweise einfach aus Mangel an Verständnis. Wiji Thukul verschwand übrigens kurz vor dem Umsturz der Regierung 1998 und bis heute gibt es keine Spur von ihm.
Und wieder gibt es nur (?) zwei Filme aus dem Programm der Leoparden von Morgen hervorzuheben: L’immense retour von Manon Coubia, ein Experimentalfilm über das Warten auf einen am Mont Blanc verschollenen Bergsteiger. Am Anfang lange, langsame, wie schwebende Bewegungen auf weissem Grund, der wie Schnee wirkt, essayartig die Gedanken der wartenden Frau, bis man begreift, dass das Weiss ein Laken ist. Eine schlafende Frau, das Verstreichen von Zeit, viel Zeit, dann eine surreale Kollage von brechendem Eis, von verschwimmenden Berggipfeln, Geräusche die unter die Haut gehen, bis der Berg am Ende, in einer sehr langen, aus dem Weiss kommenden, Blende etwas freigibt: einen verschollenen Bergsteiger. Auch in Valparaiso von Carlo Sironi wird gewartet; eine junge Chilenin wartet in einem italienischen Abschiebezentrum. Als sich herausstellt, dass sie schwanger ist, kommt sie dort raus, da Schwangere zunächst nicht abgeschoben werden können. Kompakt wird das erzählt, am Anfang die vielen Zäune und Gitter, die ein nahezu abstraktes Bild ergeben, Schwangerschaft, Geburt, das Abgeben des Säuglings in einer Babyklappe, alles in höchstens 5 kurzen Einstellungen, eliptisches Eiltempo. Dann eine kurze Phase der Ruhe vor einem Art Showdown im Krankenhaus, wo die Frau versucht ihr Kind doch wiederzubekommen.
Der traumhafte Weg von Angela Schanelec zieht eine sehr grosse Zuschauermenge an, das grosse Fevi ist fast voll, aber sehr viele Zuschauer verlassen, zum Teil unverschämt polternd, während dieses eigenwilligen Films den Saal wieder. Die Geschichte hat zwei Zeitebenen, einmal Ende der 80ger Jahre in Griechenland und England , und dann heute in Berlin, währen im ersten Teil nur das zwingend notwendige gesprochen wird, wird im zweiten Teil viel geredet und wenig gesagt. Das 4:3 Format der Bilder stilisiert und zelebriert das Weglassen, in dem immer wieder nur Teile der, vermeintlichen, Bildinformation zu sehen sind, das ist anstrengend aber auch ziemlich interessant, auch wenn man am Schluss nicht wirklich sicher sein kann den Film „verstanden“ zu haben. Wie sehr so ein Massenauszug des Publikums die Jury beeinflusst, und in welche Richtung wäre auch mal spannend zu wissen.
Auf der Piazza keine Ehrung, aber die sehr bunte Vorstellung der, seit 14 Jahren existierenden, Programschiene Open Doors, diese Jahr Südasien. Und erstmals bleibt diese Region auch in den kommenden beiden Jahren Fokus des Programms, um so eine Kontinuität auch in der Entwicklung dieser eher unbekannten Filmländer zeigen und begleiten zu können.

Josef Hader (c) chderiaz
Überraschend besser als befürchtet ist dann der Film des Abends: Vor der Morgenröte von Maria Schrader. Die letzten Jahre Stefan Zweigs im Südamerikanischen Exil, erzählt in einzelnen Etappen, die schlaglichtartig das Leben aber auch die wachsende Entfremdung und Mutlosigkeit zeigen. Josef Haders Darstellung Zweigs ist eine mögliche und plausible Interpretation, die trotzdem noch Platz lässt, sich de Dichter auch ganz anders vorzustellen, das ist sehr angenehm. Schöne Kamera und ein historisches Thema, das definitiv aktuell ist. Das Publikum schien ziemlich begeistert, aber ob das schon ein Publikumspreis ist? Neben Le ciel attendra war das auf jeden Fall der Film mit dem meisten Beifall. Aber noch sind ein paar Festivaltage übrig.
Rohe Gewalt und ein langer Zug
Vom Frühstück direkt in einen japanischen Gewltrausch! Destruction Babies von MARIKO Tetsuya erzählt von roher, sinnentleerter Gewalt, und unternimmt auch nicht den leisesten Versuch eine Begründung für die Prügelorgien zu geben, und das ist auch gut so. Irgendwo in einem Ort am Meer, im ersten Bild sieht man zwei Brüder, getrennt durch einen Flussarm, während der eine fies von einer Gruppe vermöbelt wird, steht der andere, jüngere hilflos am anderen Ufer. Der Geprügelte ruft ihm noch zu, dass er verschwindet, und ist fortan auf einer absolut selbstzerstörerischen Gewalttour, er drischt wahllos auf Leute ein, egal, ob die grösser, stärker, oder in Überzahl sind, er drischt und kämpft, auch wenn er schon am Boden liegt, und: schweigt. Und immer wieder gibt es Zuschauer bei diesen Orgien, die im Wesentlichen ihre Handys dazu nutzen das Chaos zu filmen, um die kruden Aktionen ins Netz zu stellen. Als sich ein eitler, latent aggressiver Mann ihm anschliesst, und ständig schwatzend, kommentierend und filmend hinter ihm her rennt, läuft die Gewalt völlig aus dem Ruder, und steuert ihrem unvermeidlichen, selbstzerstörerischen Ende zu. Gewalt und ihre Rezeption in sozialen Netzwerken, zusammengefügt, nicht bewertet aber zur Bewertung freigegeben.
Aus Serbien kommt der Leopard von Morgen des Tages, Tranzicija von Milica Tomovic. Auch diese Geschichte zeigt wie wenig gesagt wird, auch wenn viel gesprochen wird; während fast alle Freunde und die Eltern glauben, dass die junge Musikerin in die USA zum studieren fährt, und zwischen Freude und Bedenken von ihr Abschied nehmen, bleibt sie nahezu allein mit der Wahrheit. Ein Abschied wohl für immer, in ein neues Leben mit einem neuen Geschlecht. Das Bedrückende der einsamen Entscheidung wird viel über Blicke und tastende Kamerabewegungen erzählt, oder in lauten Szenen, die zur Farce von Nähe geraten.
Eine archaische Geschichte, von Glauben, Aberglauben und handfesten Lügen, um ein dunkles Geheimnis zu wahren, erzählt Il nido von Klaudia Reynicke. In einem kleinen Tessiner Bergdorf tritt der „Fremde“ aus der Vergangenheit in die Gegenwart, und wirbelt solange Staub auf, bis das so heuchlerisch gut versteckte Geheimnis ans Licht kommt, und die Zukunft des Ortes, so wie er ist, alles andere als sicher ist. Extrem kurzweiliger Film, getaucht ins Grün und Braun eines feuchten Herbsttages.
El futuro perfecto von Nele Wohlatz ist ein perfekter Spass; über die Übungen ihres Spanischkurs wird die Geschichte eine junge Chinesin, neu in Buenos Aires,erzählt, und je mehr sie lernt, um so wilder vermischen sich erzählte und gezeigte Geschichte. Anfangs stehen Sprachkurs und „das reale“ Leben nacheinander, je weiter die Sprachkenntnisse aber gehen, desto komplexer werden die Vermischungen von Übung und „Reaität“, bis hin zu verschiedenen möglichen Zukunftsvisionen, die in raschem Tempo hintereinander durchgespielt werden. Ein wunderbarer Film über Fremdsein, Lernen und die Kraft der Worte.

(c) chderiaz
Roger Corman auf der Piazza, mit Ehrenleopard und dem Wunsch nach Mut für das Kino der Zukunft, und ein Film aus Mosambik, der von einer langen Zugfahrt im Bürgerkriegsjahr 1989 erzählt. Comboio de sal e açucar von Lucino Azevedo, Figuren und Typen wie aus einem Western, archaisch, bekannt, immer wieder gesehen: der Brutale, der Gute, der Mysteriöse, die Frau, ein Weg voller Gefahren, ein Ziel, das alle zunächst eint, und kaum dass es erreicht ist, auseinanderfallen zu lassen. All das in weiter Afrikanischer Landschaft, und auf einem alten, fauchenden Zug, schön!