Locarno_2016

Zombies auf der Piazza

Film als die Kunstform, die am besten geeignet ist Emotionen zu vermitteln, so ein Tessiner Kulturpolitiker bei der Eröffnung und doch beginnt die 69.Ausgabe des Filmfestivals von Locarno etwas anders als in den vergangenen Jahren. Festival Präsident Marco Solari klingt versöhnlicher, beschwört weniger die unbedingte Freiheit der Kunst, betont viel mehr, dass die Schweizer (Kultur)Politik mittlerweile freiwillig und mit Herzblut zum Festival steht und jene Unterstützung bietet, die sowohl Kunst als auch deren Freiheit garantieren; Die flammenden Aufrufe der vergangenen Jahre scheinen gewirkt zu haben, eine wünschenswerte Entwicklung. Dafür nimmt er dieses Jahr in der Eröffnungsrede Bezug auf die aktuelle Lage in Europa, Weltpolitik statt Kulturpolitik. Ein ausdrücklicher Dank geht an die Polizei und Sicherheitskräfte, erstmals werden dieses Jahr Taschen und Rucksäcke kontrolliert, und die, auch bisher immer anwesenden, Polizisten sind sichtbar bewaffnet; verständlich und doch befremdlich.

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Carlo Chatrian (c) chderiaz

In seinem 4. Jahr als künstlerischer Direktor ist Carlo Chatrian zuverlässig sympathisch- mitreissend und hat alle Schüchternheiten überwunden, und so präsentiert er aufgeräumt einen Eröffnungsfilm, der im Katalog einen Warnhinweis für empfindliche Gemüter enthält. The Girl with all the gifts von Colm McCarthy, ein Zombiefilm, der Fans des Genres zu wenig blutig sein dürfte, der aber dennoch Zuschauer innerhalb der ersten halben Stunden die Piazza -fluchtartig- verlassen liess. Aber eigentlich ist der Film viel weniger Horror Schocker und Blutgemetzel, als die Auslotung grundsätzlicher Fragen nach dem Sein, dem Selbstverständnis, nach Empathiefähigkeit und Verantwortung. Spannend und unterhaltsam ist er auf alle Fälle. Während eine Welt „draussen“ von stumpfen, dahinvegetierenden Zombies bevölkert wird, sind in einem Art Militärgefängnis Kinder unter Hochsicherheit eingesperrt. Eine zweite Generation Zombies, eine Mutation, Variante, Adaptation, sind sie doch nicht dumpf sonder denkend, (mit)fühlend, fragend, auch wenn sie trotzdem blutgierig über Mensch oder Tier herfallen. Aber genau diese, menschlichen, Eigenschaften spricht eine Wissenschaftlerin – wunderbar Glenn Close mit raspelkurzen Haaren, ungeschminkt und martialisch böse – ihnen ab, für sie sind die Kinder, und besonders die hochintelligente Melanie, nur Wesen, die nach Beobachtung mehr oder weniger gut und geschickt nachahmen, weshalb sie auch nicht zögert die jungen Zombies zu opfern, um einen möglichen Impfstoff gegen die Zombie-Sporen zu entwickeln. Das dystopische Szenario dient als Hintergrund dieser gegensätzlichen Pole, Melanie, die verstehen will was oder wer sie ist, die sich ihr Recht auf (gesellschaftliche) Anerkennung erstreitet, und der Welt, wie sie bisher war, in der Zombies keinen Platz haben dürfen, und die Bedrohung unter allen Umständen bekämpft werden muss. An manchen Stellen mag die Idee etwas didaktisch ausfallen, grundsätzlich funktioniert aber sowohl die Geschichte, als auch die darin enthaltenen Grundsatzfrage gut. Der Film wird sich ein Publikum suchen müssen, dass sowohl das Gemetzel als auch den sozialen Hintergrund aushält; schwierig aber machbar.

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Mario Adorf reitet auf dem Tiger

Ehrengäste, Retrospektiven, Altes, Neues und Unbekanntes, viele Möglichkeiten den ersten Festivaltag zu beginnen. Warum also nicht mit einem Film von 1961?

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Mario Adorf (c)chderiaz

 

A cavallo della trigre von Luigi Comencini, eine rasante Gaunerkomödie mit Mario Adorf, der den Zuschauern vor dem Film, in flüssigem Italienisch, launige Anekdoten erzählt. So zum Beispiel, dass er damals telephonisch gebucht worden war, und als er dann in Person erschien, dem Regisseur klar wurde, dass er eigentlich Gerd Fröbe gemeint hatte. Bereut hat Comencini seinen Irrtum sicher nicht.

 

Das erste Programm der Leoparden von Morgen fällt enttäuschend aus, geschwätzige Filme, deren Bilder nichts weiter bieten, als Untergrund für lähmendes Palaver. Einzig Rhapsody von Constance Meyer ist ein Lichtblick, ein älterer, dicker Eigenbrötler in einem Hochhaus, dem eine, nie sichtbare, Nachbarin täglich ihr Baby zum Betreuen vorbeibringt. Ganz wunderbar Gérard Depardieu mit all seiner überbordenden physischen Präsenz, der ganz zart und liebevoll mit einem Säugling spielt, dessen Betreuung das einzige ist, das seine einsame Zurückgezogenheit unterbricht; still und schön.

Der erste Langfilm von Michele Pennetta, Pescatori di corpi , enttäuscht, die parallelen Welten eines Syrischen Flüchtlings in Sizilien, der mehr schlecht als recht in einem verlassenen Boot am Hafen lebt, und einer Gruppe Sizilianischer Fischer, die illegal vor der Küste fischen, hört sich in der Theorie gut an, ist aber in der filmischen Umsetzung nicht wieder zu finden. Bilder ruhig und lang zu lassen kann wunderbar Spannung und Gefühl vermitteln, aber eine Garantie ist es keine, und so dümpelt der Film vor sich hin, ohne das irgendein Funke zum Zuschauer überspringen kann, von Empathie ganz zu schweigen.

 

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(c) chderiaz

Pünktlich, wie vorhergesagt, entlädt sich die Schwüle in einem heftigen Gewitter. Rechtzeitig zum Beginn der Ehrenpreisverleihung des heutigen Abends scheint alles gut zu sein, Jane Birkin erhält einen Ehrenleoparden, ebenso wie der Produzent David Linde, auch die Vorstellung des Teams von Moka von Frédéric Mermoud geht noch trocken über die Bühne, den Film selbst begleiten dann allerdings die meteorologische Spezialeffekte: Regen, Blitz und Donner. Die Geschichte erzähl von einer Mutter, deren Sohn bei einem Autounfall stirbt, und die sich auf die Suche nach dem Unfallfahrer macht. Schwankend zwischen Rachegedanken und Trauerbewältigung lässt sie eine persönliche Beziehung zur vermeintlichen Fahrerin zu, kommt damit aber lange Zeit weder ihrem Gefühl noch der Wahrheit wirklich auf den Grund. Der Film ist keine Sensation, aber solides Handwerk, fürs Fernsehen produziert, wo er sicher gefallen wird.

Das Gewitter tobt weiter über Locarno, erfrischt die Luft und die Gedanken, das Festival hat ja gerade erst begonnen.