Grau bis Tiefschwarz

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Die letzten Filme bis zur Preisvergabe, Carlo Chatrian verliert dann doch langsam seine Stimme, seiner guten Laune tut das keinen Abbruch, und wo man geht und steht in der Stadt: Leoparden.
Sommerlich blauer Himmel am Tag 8, perfekt erscheint also ein Film der in weiten Teilen an einem See in Argentinien spielt. La idea de un lago von Milagros Mumenthaler fängt gut an, eine hochschwangere Photographin möchte vor der Geburt ihres Kindes nicht nur ein Buch über den Urlaubsort ihrer Kindheit fertigstellen, sie versucht auch ihr Leben und ihre Vergangenheit zu sortieren, Problem zu lösen. Zeitlich springt der Film hin und her zwischen Kindheit, frühem Erwachsenenalter und heute. Die Familienferien am See, wo man entdeckt, dass sehr früh schon ihr Vater abwesend ist, einer der Verschwundenen der argentinischen Militärdiktatur, die bröckelnde Beziehung zum Vater ihres Kindes im Jetzt, der schwelende Konflikt mit ihrer Mutter, durch alle Zeitebenen, und letztlich der Wunsch wenigstens klären zu lassen, ob der Vater eines der aufgefunden Opfer sein könnte. Alle diese Fäden laufen wild durcheinander, aber ab der Hälfte des Films gibt es keine Entwicklung mehr, die Suche nach (Er)Lösung zieht sich wie ein Gummiband in die Länge, der Zuschauer geht dem Film unterwegs verloren. Das ist schade, denn etwas gerafft, hätte das eine schöne Geschichte ergeben.
Statt Leoparden von Morgen ein Film aus dem Hauptwettbewerb Godless von Ralitza Petrova. Eine gute Entscheidung! Trostloses Grau, erloschene Farben, triste Plattenbauten, müde Gesichter, der Kontrast zum Ambiente vor dem Kino könnte kaum grösser sein. Auch hier ist die Wahl des 4:3 Formats eine dramaturgisch fast zwingende, unterstreicht das Format doch die nervöse Kamera, die oft ganz dicht auf Gesichtern ist, sie umkreist, Details aus der Unschärfe in die Schärfe holt, die Unruhe und Trostlosigkeit der Figuren spiegelnd. Eine Geschichte von Gaunerei und Korruption bis in die höchsten Kreise von Polizei und Justiz, bei der die kleinen Fische, die Krankenschwester eines mobilen Pflegedienstes, die Personalausweise der alten Menschen klaut, und ihres Freundes, einem Automechaniker, der die Ausweise verkauft, nur verlieren können. Zu gross ist der Gewinn, den die wahren Drahtzieher mit den Ausweisen erzielen, in dem sie Scheinfirmen auf die Namen der Alten eröffnen, um Geld zu waschen. Das unausweichlich düstere Ende ist durch die trüben Bilder und die, zum Teil extrem lauten, harten Geräusche, physisch spürbar, man fröstelt im Kinosaal. Allein am Schluss, wo plötzlich gleissendes Licht Berge und Skipisten erstrahlen lässt und einer der korrupten Richter in grell orangenem Anzug auftaucht, wird die Hoffnung auf eine höhere Gerechtigkeit wenigsten denkbar.
Auf der Piazza, läuft Cannes Gewinner I, Daniel Blake von Ken Loach, also statt dessen einen anderen Film nachholen, Viejo calavera von Kiro Russo. Schwer zu fassen ist der Film, zum Teil grossartige Bilder, fast monochrom Schwarz, das wenige natürliche Licht nutzend, um doch Konturen zu erfassen, Szenen die in ihrer Bild- und Tonmontage schwindlig machen vor Vergnügen. Aber dann unbegreifbare Dialoge zwischen bolivianischen Minenarbeitern, der Hauch einer Geschichte, der sich aber immer wieder entzieht. Man möchte so gerne verstehen, eben auch weil so viel Schönes in dem Film ist, aber worum es gegangen sein mag ist bis zum Ende nicht herauszufinden.
Familienbande

(c) chderiaz
Doppelte Dosis Leoparden von Morgen, das letzte internationale und das letzte nationale Programm und darin einige schöne Filme. Au loin, Baltimore von Lola Quivoron beginnt laut. Heulenden Zweitakt Motoren, eine Gruppe Jungs düst durch eine französische Vorstadt, waghalsig, ausgelassen drehen sie ihre Motoren auf, bis bei einer der Maschinen plötzlich der Motor aussetzt. Der Junge schleppt sein Motorrad die Treppe rauf in die elterliche Wohnung, wo sein Vater komatös schläft, und sein kleiner Bruder alleingelassen und gelangweilt spielt. Und plötzlich ändert ich der wilde Typ von eben, und es beginnt eine ganz zarte, leise Geschwister Beziehung. Präzise, schöne Kamera zwei tolle Darsteller und eine schöne Geschichte. Each to their own von Maria Ines Manchego, auch hier steht eine Familie im Mittelpunkt, der Mann/Vater ist gerade gestorben, die Stimmung der Trauer bei Mutter und Teenager Tochter ist aggressiv – verschlossen. Bis jede für sich einen Weg durch die Trauer findet, und sie damit auch wieder füreinander da sein können; ein kleiner, gut erzählter Film. Familie auch im Animationsfim Hold me (Ca Caw Ca Caw) von Rennee Zhan , allerdings sehr, sehr speziell. Ein Mann und ein grosser Vogel leben in einer Liebesbeziehung, rotzfrech und skurril die Sexszene, die Mahlzeiten bis der Vogel ein sehr grosses Ei legt, und das Brüten wichtiger als die Beziehung wird. Der Mann wird nicht mehr befriedigt, nicht mehr gefüttert, und schnappt sich schliesslich das Ei; bitterböses Ende inklusive.
Cabane von Simon Guélat ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von Freundschaft, Loyalität und Liebe. Vier Jugendliche die heimlich zu einem Baumhaus im militärischen Sperrgebiet gehen, als sie schliesslich entdeckt und vertrieben werden, kehrt Abends zunächst einer, dann der zweite der Jungs zurück, doch die sexuelle Spannung des einen, wird vom anderen zurückgewiesen, als Kinderei abgetan, wütend schmeisst sein Freund ihn aus dem Baumhaus. In der Nacht, die er alleine im Wald verbringt vermischen sich Träume und Geschichten, alleine diese Sequenz ist es schon wert den Film zu sehen, geheimnisvoll und angenehm verwirrend. Am Ende der Nacht ist ein Stück Kindheit von dem Jungen abgefallen, so wie das Baumhaus neben ihm zusammenbricht. Digital immigrants von Norbert Kottmann und Dennis Staufer ist ein irre witzig konstruierter Dokumentarfilm, TV Filme über Computer und ihre Möglichkeiten, Auswirkungen und Gefahren aus den Jahren 1959 bis 1990 werden kombiniert mit Aufnahmen von Senioren heute, die in einer Art Selbsthilfegruppe sich gegenseitig helfen Computer zu bedienen und zu begreifen. Einfach nur klasse! In Les Dauphines von Juliette Klinke geht es wieder um Familie, eine Mutter reist mit zwei Töchtern, zu einem Talentwettbewerb. Eher punkig als glamourös,die drei üben auf einem Parkplatz, übernachten im Auto,die Kinder haben Spass. Beim Anblick der anderen Mütter und Kinder wird die Mutter allerdings nervös, alles droht zu kippen, aber die kleine Schwester, ein niedlicher kleiner Pummel, rettet, ganz unglamourös, aber sehr originell den Auftritt.
Letzter Ehrenleopard vor der morgigen Preisverleihung, diesmal an Alejandro Jodorowsky, der auf die Frage, warum er zwischen seinen Filmen immer wieder lange Pausen lagen: wenn er nichts zu erzählen hätte, dann würde er eben keinen Film machen.
Der Film des Abends hat etwas zu sagen, und das mit sehr viel Humor, Vincent von Christophe Van Rompaey. Und wieder Familie, eine recht durchgeknallte obendrein. Die Titelfigur, der 17 jährige Vincent ist überzeugt, mit seinem Selbstmord die Welt aus ökologischer Sicht besser zu machen, immerhin würde sein ökologischer Fussabdruck damit auf null sinken. Der Film beginnt mit völlig entfesselt wirkender Kamera, die sich als die Subjektive Sicht des Möchtegern – Selbstmörders entpuppt. Mutter, Stiefvater, hochschwangere Schwester, kleine punkige Schwester und dann kommt auch noch die Halbschwester der Mutter aus Paris zu Besuch! Lustig – freche Dialoge, familiäre Gemeinheiten, eine fast schwarze Komödie, deren 2 Stunden wie im Flug vergehen.