Die Verklärung des Gewöhnlichen

Zwei Filme aus Lateinamerika im Wettbewerb – San Sebastian-Tagebuch_2016_07

Maixabel ist blond, und sieht auch wegen ihrer hellen Haut eher wie eine Dänin aus. Sie ist aber baskische Spanierin, und sitzt hinter dem Schalter an dem man sich jeden Tag die Karten für Akkreditierte besorgen muss, und im Gegensatz zu ihrer Kollegin, nach deren Namen ich auch noch nicht gefragt habe, unterhalte ich mich mit ihr immer ein bisschen, über Filme, über die Stimmung, über Journalisten an und für sich und so weiter… Sie hat mir neulich auch „pastelloso“ beigebracht, das spanische Wort für kitschig, das es sehr gut trifft, weil es an einen süßen Kuchen erinnert.

Heute habe ich ihr erzählt, wie schön ich es hier finde, und dass ich jedes Mal beim Festival denke, dass ich gern einmal länger hierherkäme, mindestens mal eine Woche vor oder nach dem Festival da wäre. „Aber wenn Du dann herkommst, regnet es sicher.“ meinte sie dazu, „Aber das ist auch nicht schlimm. Wir sind dann ja auch da und sitzen alle in der Bar und finden es cool. So sind wir.“ Maixabel will mir tatsächlich weismachen, dass das Wetter hier immer schlecht sei. „Wir Basken sind keine richtigen Spanier, die sind braun und haben dunkle Haare – schau mich an.“ Und wo soll man hinziehen? Sie schlägt Sevilla vor: „Sevilla! Sevilla ist großartig. Andalusien ist super.“

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Im Wettbewerb derweil zwei Filme aus Lateinamerika: „Jesus“ aus Chile, von Fernando Guzzoni ist bereits im Vorfeld seltsam gehyped worden – was vermutlich auch damit zu tun hat, dass der Film satt mit Fördergeldern aus Frankreich, Deutschland und Griechenland (!?) ausgestattet ist.

Der Film erzählt von einem etwa zwanzigjährigen Taugenichts. Er trägt diverse Tatoos, Piercings und Ringe in den ausgestanzten Ohrläppchen, schaut sich Enthauptungen auf „mundonarco.com“ an, und belügt seinen Vater um von ihm Geld zu bekommen. Die ersten 40 Minuten schauen wir ihm im Prinzip dabei zu, wie er permanent mit schmutzigen Drogen und billigem Schaps zugedröhnt in der Gegend herumschlurft, lallt, sabbert und kotzt und im Delirium alles lustig findet. Vermutlich möchte der Filmemacher, dass man Jesus bemitleidet, dass man ihn mag oder anders Anteil nimmt. Mir geht es eher so, dass mich der Film schon deshalb schnell genervt hat, wer mich zwingt minutenlang Sachen zu sehen, die ich gar nicht sehen will, und unendlich viel Zeit mit einem Vollidioten zu verbringen, mit einem Typen, den ich, wenn er mich in einer Kneipe anquatschen und um Geld betteln würde, sofort wegschicken würde.

Irgendwann hat Jesus – neben einem Grab, drunter geht’s nicht in diesem wichtigtuerischen Film – Sex mit einem Mädchen, das am ganzen Körper tätowiert ist und gepiercte Brustwarzen hat. Später hat er dann Sex mit einem seiner Nichtsnutz-Freunde, und natürlich könnte man jetzt lange über Einsamkeit und Sehnsucht nach Wärme, nach Geborgenheit schwadronieren. Diese unklare sexuelle Orientierung, die bei einem Typ, der auch sonst ziemlich orientierungslos ist, wenn er nicht gerade seinen Vater belügt, nicht weiter überrascht, führte aber vor allem zu langen weitschweifigen Debatten bei der Pressekonferenz nach dem Film, weil es offenbar in der Machoregion Lateinamerika immer noch das größte Problem ist, wenn Jungs nicht auf Mädchen. was sie sonst tun, ist offenbar vergleichsweise ziemlich wurscht.

Das müsste nicht so sein, denn etwa in der Mitte des Films laufen diese armen geborgenheitbedürftigen Jungens, als sie mal wieder nachts vollgedröhnt durch den Park stolpern einem anderen Jugendlichen über den Weg, cder das Pech hat, allein zu sein. Nachdem sie ihn zu Brei geschlagen und getreten und bepisst haben, bringen sie ihn um. Das alles tritt der Regisseur minutenlang breit, malt es gewissermaßen genüsslich und explizit aus – was er natürlich m,it den Sexszenen nicht tut. Daran, an dem Unterschied zwischen der Darstellung von Sex- und Gewalt erkennt man diese Art von Arthouse-Exploitation.

Das war der Moment, wo die Zuschauer gruppenweise den Saal verließen. Ich blieb drin, aus Berichterstatterethos, und habe es schon in dem Augenblick bereut. Was folgt ist, dass der Vater als er begreift, was sein Sohn getan hat, diesen verrät. Daraus macht der Film dann eine große Affaire. Wie prätentiös das alles ist, zeugt der Titel den man jetzt erst versteht: „Vater, warum hast Du mich verlassen!“ Ohgottohgott.

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Was für ein Unterschied zu dem Blick auf die Jugend in Jacques Beckers „Rendez-vous en Juillet“. Die Verklärung des Gewöhnlichen, die Bestandsaufnahme des Hässlichen. Utopielosigkeit, und, ja, auch Lieblosigkeit.

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Der zweite Latino, „El Invierno“ vom Argentinier Emiliano Torres ist ein Schweigefilm und die argentinische Version eines Western: Alles spielt auf einer Ranch in Patagonien: Pferde und Schafe werden hier gehalten, die Landschaft ist toll anzusehen, und zum Leben schwer zu ertragen. Ein alter Mann wird von den Eignern gezwungen, seine Arbeit als Vorarbeiter dort aufzugeben. Ein junger Typ wird sein Nachfolger. Es gibt Spannungen und Konflikte, und zuerst sympathisiert der Film ganz mit dem Alten. Dann kommt der Winter… Ein schwieriges Leben, in Einsamkeit, der Kampf um die Vorherrschaft tritt zurück hinter den Ka,mpf gegen die Natur, ums Überleben. Beide müssen sich zusammenraufen. Aber dann stirbt der Alte. Der Junge beerdigt ihn. Am Ende aber hat nicht etwa er gesiegt, sondern das System. So versteckt sich hinter dem Thema des Generationenkonflikts und der Darstellung des Abschieds, des Abgesangs von einer Lebensform auch die Kapitalismuskritik. Trotz der Landschaftsbilder, und einer starken, intensiven Atmosphäre finde ich das alles so richtig gut aber auch nicht. Es ist nur eine andere, vielleicht wenigstens aufrichtigere Art, sich dem bürgerlichen Arthousepublikum anzubiedern.

Rüdiger Suchsland

Vor der Nouvelle Vague

Jazz und Gin und Urbanität: Erste Eindrücke von der Jacques-Becker-Retrospektive; San Sebastian-Tagebuch_2016_06

„Cigarettes americaines? No, i stick to the french.“

(aus: „Rendez-vous de Juillet“)

In San Sebastian gibt es noch Urbanität. Vermutlich wissen in Deutschland viele überhaupt nicht, was das Wort bedeutet. Es bedeutet nämlich nicht, dass es überall WiFi gibt, pro Quadratkilometer zwei Starbucks, und bezahlbare Mieten. So schön das alles auch ist.

Urbanität bedeutet Verhalten der Bürger. Sie bedeutet, dass auf der Concha, der einmaligen Bucht vor der Stadt mit ihrem breiten Sandstrand, die von einer etwa sechs bis zehn Meter über der Strandhöhe gelegenen, breiten Promenade eingerahmt wird, deren Eisen-Geländer wie vieles hier im Stil des 19. Jahrhunderts gehalten ist, dass auf dieser Concha tagtäglich die Leute spazieren. Normale Leute, altmodisch gekleidete alte Paare, die eingehakt flanieren, oder Teenager, Eltern mit Kindern, aber vor allem oft auch Freunde: Drei Männer, oder fünf Frauen. Seltener gemischt. Urbanität ist die Selbstverständlichkeit dieses Verhaltens, des Sich-Zeigens, des Rausgehens, die Selbstverständlichkeit, mit der der öffentliche Raum von den Bürgern eingenommen, in Anspruch genommen wird.

Niemals würde, wie in Deutschland üblich, ein Restaurantbesitzer hier den Bürgersteig mit Tischen zustellen. Denn da will man ja laufen. Niemals würden öffentliche Bänke wie in Deutschland schon so konstruiert, dass man einzeln sitzen muss oder sich nicht drauf legen kann. Denn wozu sind Bänke denn da, wenn nicht zum Zusammensitzen. Und wenn jemand sich da mal hinlegen möchte, dann soll er doch. So ist Spanien.

Überhaupt gibt es enorm viele öffentliche Bänke in San Sebastian.

Urbanität ist, dass das Leben draußen stattfindet, und zwar das Leben der ganzen Familie, drei vier Generationen nebeneinander. Es ist aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der das Leben im Hier und Jetzt genossen wird. Man sieht hier, ob im Kino oder in Lokalen, alle Altersgruppen. Man sieht, wie viel und wie gern die Leute essen und trinken.

Zum Beispiel neulich, am Dienstagabend, als wir zu viert zum Abendessen in der „Bodega Donostiarra“ saßen, einem der besseren Lokale der Stadt, gleichzeitig bodenständig und in allem excellent. Gegen 20 Minuten vor Mitternacht, wir wollten gerade zahlen, kamen da sechs ältere Damen, keine unter 50, offensichtlich aus dem Kino setzten sich an einen Tisch, bestellten Bier und Wein und natürlich zu essen. Ganz normal halt. Das möchte ich trotzdem einmal in Deutschland erleben.

Urbanität ist übrigens auch das Verhalten der Bedienungen. Sie sind schnell, erklären, wen es dauert, behandeln alle gleich, jedenfalls wenn man sich halbwegs zivilisiert verhält. Wahrscheinlich könnte man Urbanität auch mit Zivilisiertheit übersetzen.

Ich mag natürlich auch einfach die Spanier sehr gern.

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Auch hier gibt es natürlich die Schattenseiten der Urbanität und schlechte Veränderungen. So klug das EU-Geld, das die Stadt als „Europäische Kulturhauptstadt 2016“ erhält, auch eingesetzt wurde, kaum für teure Prestigebauten und kurzatmige Renommee-Projekte, sondern für nachhaltige urbane Verbesserungen. Trotzdem gibt es auch hier leuchte Tendenzen zur Zerstörung der alten Stadtstruktur

Gesprächsstoff ist gerade die schöne alte, 1926 erbaute „Villa Kanimar“, die in der gleichen Straße lag, wie mein Hotel, und deren Abriß ich täglich auf meinem Fahrradweg zum Festival Schritt für Schritt mitverfolgen konnte. Gestern Abend war sie weg.

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Das heimliche Festivalzentrum in San Sebastian ist das „Café Artess“. Hier kommen sie alle vorbei, man kann sich grüßen, kurz reden, lange miteinander sitzen: Brigitte Suarez von Match Factory, Meinolf Zurhorst von ARTE, Titus Kreyenberg aus Köln – „mit meiner neuesten Coproduktion“ sagt er kinderwagenschiebend -, Bernhard Karl aus München, aber auch Nichtdeutsche: Pamela aus Paris, Pamela aus Chile, Martin aus Chile, Ariel aus Paris, Esin aus Istanbul, Geri aus Zürich, Produzenten und Funktionäre auch Uruguay oder Portugal, deren Namen ich jetzt dooferweise auch nicht mehr weiß.

Hier kann man dann sitzen und schreiben. Die Bedienungen lassen einen in Ruhe, fragen nach dem dritten Tag, ob erst Caffe con Leche, oder gleich Bier, und leeren regelmäßig den Aschenbecher.

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Freitag bis Sonntag, vor allem Samstag, herrscht hier schon nachmittags ein Heidenlärm. Die Leute lassen sich om Festival nicht stören, das ist die sehr angenehme Grundstimmung. Ein Straßenmusiker flötet schon seit zwei Stunden etwas immer gleich klingendes. Ob er dafür Geld bekommt? Auf dem Spielplatz gegenüber des Cafés tummeln sich etwa 30 Kinder verschiedensten Alters. Direkt neben mir an einem Tisch sitzen vier Mütter mit drei Töchtern, die jüngste ist höchstens vier. Aber es wirkt so – keine Brüder, keine Väter, die Mütter trinken Bier oder Spritzz, die Töchter Limo – als ob hier schon der zukünftige Bund geschmiedet wird, die Mädchen auf ihre Rolle als spanische Frau vorbereitet werden.

Rechts gegenüber liegt das San Telmo Museum, ein umgebautets altes Kloster mit Kreuzgang wie modernem Trakt, das für das Kulturhauptstadtjahr frisch renoviert wurde, und wo die Eröffnungsfeier stattfindet und auch zwei Kinos liegen. Vorhin kam kurz mal Richard Gere vorbei, da wurde es noch lauter.

Rechts neben dem Café liegt das Principe-Kino, das mit seinen zehn Sälen das Herz des Festivals bildet. Hier laufen alle Wiederholungen und sowieso die Retrospektiven.

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Nach San Sebastian komme ich immer auch, um hier viel aus den Retrospektiven anzugucken. Die historische Autorenretrospektive gilt in diesem Jahr dem Franzosen Jacques Becker. Becker (französisch ausgesprochen, also hinten lang) ist ein Geheimtip, irgendwie eine Legende, aber auch, soviel kann ich nach der ersten Handvoll Filme sagen, ein seltsamer Filmemacher, der nicht gut einzuordnen ist, und ein mit nur 15 Filmen kleines, disparates Werk hinterlassen hat. Becker begann in den Dreißiger Jahren als Assistent von Jean Renoir, bekannte sich zum Kommunismus, drehte eigene Filme für die Volksfront, drehte dann aber auch Filme unter der Besatzung und der Vichy-Regierung, dann im Nachkriegsparis wie er mit erst 54 Jahren gerade dann starb, als 1961 der Siegeszug der Nouvelle Vague begann. Um der anzugehören, wäre er sowieso zu alt geworden. Truffaut mochte ihn, Godard wohl weniger, obwohl der einen seiner Filme „Les Amants de Montaparnasse“, der aus meiner Sicht eher misslungen ist, außerordentlich gelobt hat.

Insgesamt ist Becker eine Zwischenfigur, „un artiste intermediaire“ wie irgendeiner geschrieben hat. Man hat den Eindruck, dass Becker permanent in seinen Filmen auf der Suche nach etwas ist, etwas, das er nie gefunden hat.

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Das allererste, was mir auffällt: In fast allen Filmen Beckers werden Frauen geschlagen, bekommen heftige Ohrfeigen, so heftig, dass es auch für die Zeit eher untypisch ist. Auch wenn Frauen nicht selten im Zentrum stehen, ist Becker ein ganz klarer, ziemlich altmodischer Macho.

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Der erste Film den ich sah, und der sich als einer der besten von Becker herausstellen sollte, war „Rendez-vous de Juillet“ von 1949. Zunächst einmal ein Beispiel dafür, wie eng Jacques Becker´der Familie seines Lehrmeisters Jean Renoir verbunden war. Denn die Kamera führte Claude Renoir einer der wichtigsten Kameramänner Frankreichs, verantwortlich für so gleichermaßen absurd unterschiedliche Filme wie „Une Partie a Campagne“ (1936) seines Onkels Jean Renoir, wie für Roger Vadims „Barbarella“ (1969). Vor allem aber: Beckers Schnittmeisterin in quasi allen seinen Filmen war Marguerite Renoir, Jean Renoirs Lebensgefährtin bis 1939.

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„Rendez-vous de Juillet“, in Deutschland mit dem idiotisch-passenden Titel „Jugend von heute“ versehen, ist in leichtem Komödienton gehaltenes, aber doch ernsthafter Ensemblefilm. Es dreht sich alles um Junge Leute, Jazz-Musiker, Schauspieler, und Forscher. Wie im Jazz gibt es zwar bestimmte Leitmotive und Leitstimmen, aber das Ensemble, die Beziehung zwischen den Charakteren bleibt das Entscheidende.

Ein ziemlich bezauberndes, leichtes, nie leichtgewichtiges Stück Avant-Nouvelle-Vague, das ganz den Zeitgeist des Existentialismus atmet, Idealismus und Melancholie, Engagement und Ennui verbindet.

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Eltern, Kinder, jung-sein 1949. Die erste Einstellung zeigt einen Schwenk über den Concorde, der in einen Innenraum mündet: Eine sehr bürgerliche Familie, „Papa est a table“ heißt es als die erwachsenen Kinder zu spät kommen. Solche Szenen der bürgerlichen Gesellschaft wird es immer wieder geben bei Becker. Der jüngste Sohn wird aus dem Zimmer geholt, um sich mit dem alles in allem liebenswert-nachsichtigen Patriarchen-Vater zu streiten, und den Essenstisch wieder zu verlassen. „Mein Schicksal liegt in der Ferne“, sagt er mit viel Ernst – Lucien ist Afrika-Fan, aber wir kehren nie wieder in diese Wohnung zurück. Es geht hier nicht um einen, sondern um fünf, fünf Jugendliche und andere und ihre Eltern und ihre Lehrer. Bemerkenswert ist die grundsätzliche Sympathie der Eltern und der Lehrer mit der Jugend, das Pathos des Jungseins.

Wir sehen Jazz im Club, Anthropologen im Musee de l’homme, Schauspoielschüler, die Sasha Guitry spielen, und denen der Lehrer sagt: „Quand on etait comedien, on est ar-ti-culé!“

Wir sehen aber auch ein Schwimmauto, das durch die Seine fährt – Ein Paris-Film ist dies auch -, und das damals noch viel sensationeller gewirkt haben muss, als heute, auf dem „Biki-ni“ geschrieben steht, und „Hallo – A l’eau“. Die Unbeschwertheit ist hier zentral.

Sie sind alle harmlos und gutwillig, keineswegs antibürgerlich, sondern im Grunde ernsthaft und angepasst. Anti-zynisch. Lucien, gespielt von dem erstaunlichen Daniel Gelin in seinem ersten von drei Becker-Filmen, plant eine Expedition zu Pygmäen. Andere junge Männer träumen davon, ihre Mutter zu entlasten, ihrem Vater zu gefallen. Die Girls haben Kettchen mit einem Kreuz um den Hals. Die zentrale von ihnen ist Schauspielerin, bescheiden, schüchtern, darum Sympathieträgerin und wird gespielt von Brigitte Auber, die später bei Hitchcock („To catch a thief“) die katzenhafte, Musidora-artige Juwelendiebin im Cat-Súit spielte. Die andere ist die seinerzeit erst 17-jährige vor auf den Tag genau drei Monaten verstorbene Nicole Courcel – eine junge schwache, nie ganz ehrliche Frau, der Daniel Gelin verfällt, was zu dem schönen Dialog führt: „If i’d really loved you, I would ask you to make love right now.“ – „Quoi?“ – „You will some day give your body to someone. But you will never give your heart. Because you dont have one.“

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Der Film mündet in eine Party, in einer Dachatelierwohnung. Es gibt viel Gin, due Frauen kochen, sehr selbstverständlich schmeißen die Jungs aus der Küche, obwohl es einer von ihnen ist, der das Rezept kennt. Zehn Jahre vor „Breakfast at Tiffany’s“ lohnt der Film schon als Alltagsstudie, wie die da leben, wie die Möbel, die Tapeten, wie die Frauen aussehen.

Kurz darauf hält Gelin eine Rede, die mehr ein Wutanfall ist, in der er allen seinen Freunden und Bekannten stellvertreend für den Regisseur den Spiegel vorhält: „You want to have little nice lives without a risk! Wacht auf! Eure Familien sind halbtot und sie wissen es. Es ist Zeit für uns, zu handeln!“

Was für schöne Zeiten, in denen man so noch reden konnte!!

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Toll, wie die dann auf der Party alle rumhängen. Wie sie, obwohl es Grund zu feiern gab, dann alle schlechte Laune haben und melancholisch werden.

Toll, weil dieser Film nie auf ein Gefühl zuläuft. Weil er den Zuschauern nichts auftischen will, aber vieles zeigen.

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Am Ende startet ein Flugzeug, ausgerechnet eine alte deutsche Maschine, eine Ju 52. Die Männer heben ab, fahren weg, die Frauen bleiben da, bleiben am Boden. Zwei Frauen: Die Strahlende (Auber) und die Depressive (Courcel).

Becker zeigt Menschen, die die Welt entdecken, die intensiv fühlen, er zeugt den Optimismus einer Epoche, sehr den Details zugewandt. Ein historischer Film, dessen Gefühle aktuell sind. Becker spricht von der Jugend seiner Zeit, dem Aufbruch. Und dies war kein imaginärer, behaupteter, idealisierter Aufbruch, wie bei Rene Clair, sondern ein echter.

Rüdiger Suchsland

Die sieben Leben einer Frau

Im Offenen: Lolitas, Katzen, Freiheitskämpfer – „Orphan“ von Arnaud Des Pallieres und „Lady Macbeth“ von William Oldroyd; San Sebastian-Tagebuch_2016_05

„Kiki – whats going on?“

(aus: „Orphan“)

Der Film geht einfach los. Bilder aus einem Frauenknast, wir sind sofort in einem Genre, glauben wir zumindest, und sehr unmittelbar in einem bestimmten Typ Film drin: Naturalismus, soziale Institutionen, eine bewegliche Kamera, die nahe an ihren Protagonisten dran ist, zugleich zurückhaltend beobachtend bleibt, schöne Menschen in hässlichen Verhältnissen, Dardennes! Gemma Aderton spielt Tara, die Frau aus dem Gefängnis, sie wird entlassen, wir sehen sie in einem Zug.

Dann wird, der Film ist gerade fünf Minuten alt, umgeschaltet an einen völlig anderen Ort: Ein Kindergarten. Adele Haenel spielt hier tatsächlich wie in einer unmittelbaren Fortsetzung des letzten Dardennes-Films „La Fille Inconnu“, in dem sie eine selbstlose Ärztin der Armen spielte, eine engagierte Schuldirektorin. Dann wird sie von Tara besucht, die für sie offensichtlich ein unangenehmer Besuch ist aus ihrer Vergangenheit. Tara will Geld, viel Geld – und bekommt es. Kurz darauf kommt die Polizei zu ihr nach Hause. Ob sie Karine Rosinsky sei? Sie nickt, wird verhaftet, in Handschellen abgeführt.

Wieder wechselt die Szene, nun steht ein junges Mädchen im Zentrum. Sasha, gespielt vom Pariser Shooting-Star Adele Exarchopoulos. Wir sehen, dass sie Arbeit sucht, wie sie einen älteren Mann trifft, Lev, der „ein Kind adoptieren“ will. Lev ist nett zu ihr, ein cooler Mann der sich cool in einer gefährlichen Welt bewegt. Er gibt ihr Arbeit in der Pferderennbahn, wo er als Profi-Wett-Anbieter und Geldverleiher viel Geld verdient. Sie verführt ihn – „When did you last fuck? Have you jerked off, thinking of me? How many times?“ -, da haben wir schon längst begriffen, dass diese junge Frau mit Lolita-Attitüden zwar scheu und verwundbar ist, aber stark, wenn es darum geht, instinktiv die Begierden und Schwachpunkte der Menschen zu erkennen. Die von Lev, aber auch die von Tara, die jetzt auch bei der Pferderennbahn arbeitet. Sascha sieht sofort, dass Tara, obwohl sie ein Baby hat, auf Frauen steht.

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Zunächst wirkt dieses episodische Wechselspiel zwischen drei Figuren, drei Orten rätselhaft, chaotisch und unzusammenhängend, doch schnell webt der französische Regisseur Arnaud Des Pallieres („Michael Kohlhaas“) diese losen Episoden und Schauplätze, zu denen später noch zwei weitere hinzu kommen, zu einem immer dichteren Netz.

In diesem dritten Schauplatz, dem faszinierend-fremden Milieu der Pferde-Wett-Szene und des riskanten Lebens am Rande der Legalität, des schnellen Geldes, der schnellen Schulden, des täglichen Exzeß‘, der Spieler, Bankiers und Geldtransporter, hält sich der Film erstmals länger auf. und doch bietet er vor allem Momentaufnahmen, deren Verbindung im Auge des Betrachters liegt, die er selbst zu leisten hat. Irgendwann wird Sasha, die Verführerin selbst zur Verführten, und dann geht alles sehr schnell: Eine Tote wird auf einer Bahre weggetragen, Tara wird verhaftet, Sasha nicht und zum ersten Mal entsteht eine Ahnung davon, was wir hier tatsächlich sehen.

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Wieder ein Wechsel, der vierte Schauplatz, die vierte Hauptfigur: „T’a quel age?“ – „Piss off asshole“, ein Nachtclub, die Kamera ruht ganz auf dem unschuldigen, hübschen Gesicht eines Mädchens, die vielleicht 13,14, vielleicht 15,16 ist. Karine hat eindeutig eine Macke, aber man versteht schnell auch warum: Der Vater schlägt sie will sie kontrollieren in derart manischer Weise, dass sie nur ausreißen kann. Mal schläft sie im Wald, mal bei Männern, die ihr selten Gutes wollen. Die Polizei hilft ihr gegen den Vater.

Die fünfte Szenerie ist ein Trailerpark nahe einem Schrottplatz im Sommer. Französischer White-Trash. Die etwa neunjährige Kiki spielt mit ihren Freunden Verstecken. Aber auch nach langem Suchen auf dem Schrottplatz, in der Halle zwischen Regalen und in alten Tiefkühltruhen kann sie die Freunde nicht finden. erst spät am Abend finden die Nachbarseltern sie: Tot.

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Es ist ziemlich hervorragend, wie es Arnaud Des Pallieres gelingt, seinen Film, lange im Offenen, Vagen zu halten, ohne dass es je diffus wird. Es ist der straighteste Film von De Paillieres, den ich kenne.

Die Zeitstruktur des Kinos und ihre impliziten Vorgaben führen uns zunächst an der Nase herum: Erst dann verstehen wir, dass es sich bei den vier Frauen und dem Mädchen Kiki vor allem um eine einzige handelt, bei den fünf Erzählschichten um fünf Phasen und entscheidende Augenblicke ihres Lebens, in denen sie von vier Darstellern verkörpert wird. Kiki und Sasha sind Karine, die auf der Pferderennbahn auf Tara traf, die sie zu einem Raubüberfall überredete, bei dem eine Geldbotin starb. Tara saß acht Jahre dafür ein, Karine hatte das Geld und baute sich damit ein neues Leben auf. Heraus schält sich so die Erzählung des Schicksals einer jungen Frau, die zum Opfer und zur Täterin wurde, und die nun von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Sie wird sich ihrer Schuld stellen.

„Orphan“ ist geprägt von seiner geschickten Erzählstruktur, die dem Zuschauer vieles erst mit der Zeit verrät – dies ist ohne Frage der stilistisch ambitionierteste und einer der besten Beiträge im bisherigen Wettbewerb der Filmfestspiele von San Sebastian.

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Der letzte Teil des Films zeigt, wie Karine aus der Untersuchungshaft entlassen wird, doch der Prozeß droht erst noch, wie ihr Lebensgefährte Darius versucht, die Hochschwangere außer Landes zu schaffen, um „neu anzufangen“. Doch kaum ist das Kind – in Rumänien – geboren, entschließt sich Karine zur Rückkehr nah Frankreich. Sie meldet sich an der nächsten Polizeistation und wird sich ihrer Vergangenheit stellen.

Offen, im besten Sinn vage bleibt hier aber die moralische Konsequenz: Denn was folgt? Sie lässt ihr neugeborenes Kind allein, so wie ihre Eltern sie allein ließen. Obwohl sie weiß, was das bedeutet. Obwohl sie weiß, dass ihre Abschiedsworte „Ich liebe Dich. Ich komme wieder“ von dem Baby nicht verstanden werden, und möglicherweise nie eingelöst werden. Und wer weiß schon, was Darius dem Kind erzählt, wo er mit ihm hingeht? Macht Karine nicht den gleichen Fehler, der an ihr getan wurde? Oder sie macht die Dinge richtig? Der Film vertraut am Ende den Institutionen. Die doch kein Vertrauen verdienen. Oder?

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Es dominiert immer ein Gefühl der Gefahr, der Unsicherheit, es ist das Lebensgefühl von Karine, die sich auf nichts verlassen kann. Wir sehen wie wichtig ihr Ordnung ist, das Aufräumen, und so ist „Ophan“ kein Film über Schuld und Sühne, kein Film über Männer und Frauen, sondern ein Thriller über Entscheidungssituationen, über die kleinen Momente, in denen alles im Leben anders wird, oder geworden wäre, hätten wir anders entschieden. Und es ist ein Film darüber, wie gefährlich das Leben für Frauen und kleine Mädchen ist, und wie schlecht es die Welt oft mit ihnen meint.

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„Film forever“ heißt das Motto im Logo des BFI.

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Das erste Bild zeigt ein junges Gesicht unter einem Schleier im Hochzeitskleid. Der Ausdruck ist freundlos aber entschlossen. Sie singt: „Lobet den Herren.“ Das zweite Bild zeigt, wie sie von einer schwarzen Dienerin entkleidet wird und dann ihr das Nachthemd angezogen wird. „Your’e cold?“ – „No“ – „Nervous?“ – „No“. Dieser erste Dialog macht sofort den Diskurs der Kälte auf, ihrer Kälte. Der Bräutigam tritt ein: Ob sie es bequem habe? Ob es ihr kalt sei? Sie solle nicht soviel rausgehen. Sie antwortet „I have a thick skin.“ Und: „I like the fresh air.“

Auch diese Katherine ist eine Frau mit Fehlern. Sie ist die Hauptfigur des hervorragenden britischen Films „Lady Macbeth“ von William Oldroyd. Angesiedelt wie Shakespeares Stück in den schottischen Highlands, allerdings Mitte des 19.Jahrhunderts, geht es um eine junge Frau (Florence Pugh), die in eine Zwangsehe gepresst wird.

Wie unsympathisch die Verhältnisse sind, daran lässt der Film keine Zweifel.

„Take it off. Your nightdress, take it off.“ sagt ihr Mann, dann „Face to wall!“, dann befriedigt er sich selbst.

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„Face to wall!“, „Stop smiling“ – als Katherine dann wochenlang allein ist, während der Mann die Güter inspiziert, sagt sie zu den Knechten genau die Sachen, die sie von ihrem Mann gehört hat. Sie geht auch viel raus, lässt ihre Haare offen vom Wind durchblasen, holt eine Katze zu sich ins Haus. Sie scheint autoritär, doch Sebastian, einer der Knechte, versteht die Zeichen der Worte und Blicke besser: „I am terribly bored, Mrs. Lester. Aren’t you bored, Katherine?“ Und dann beginnt eine Affaire.

Die bleibt nicht unverborgen, und da der Gatte weiter fern ist, statt ihr der Pfarrer einen Besuch ab: „Perhaps a little more solitude and relaxation could help.“ Die wirft ihn heraus.

Den Schwiegervater kann sie nicht herauswerfen, er ist der nächste Gast im Haus, während der Ehemann sich weiterhin nicht blicken lässt. Er versucht, ein brutales Strafregiment zu etablieren. Dazeigt der Film, wie die Großgrundbesitzer noch im 19. Jahrhundert ihre Leute wie Sklaven behandelten: Sie werden verprügelt und in Ketten gelegt: „You behave like an animal, so I will will treat you like one.“ Katherine reagiert mit gleicher Münze: Sie verabreicht dem Schwiegervater ein Pilzgericht. Und er stirbt. Es sieht wie ein Unfall aus. Nur die Katze sah zu und scheint zu wissen, was geschah.

Als der ungeliebte, sie vernachlässigende Ehemann irgendwann doch zurückkehrt, dauert es nur wenige Minuten, bis er ihr Vorhaltungen macht: „My father bought you along with a piece of land. The whole county heard about your shameful behaviour. I do not like beeing talked aobut, Madame. You will alter your behavior, Madame.“

Worauf sie ihn mit dem Schurhaken erschlägt. Dann verbuddeln Sebastian und sie ihn, erschießen sein Pferd und er scheint spurlos verschwunden.

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William Oldroyd zeigt einen Eskalationsprozeß. Er zeigt eine junge Frau, die zunächst nicht mehr will, als geliebt werden, die dann nicht bereit ist, zu einer Gefangenen archaischer Standesvorschriften und ihres Dienstpersonals zu werden. Und die für ihre Freiheit, dafür ein eigenes Leben zu haben, bereit ist über Leichen zu gehen.

Katherine ist eine Frau, die zur Täterin wird, weil sie ein Opfer ist – ein Opfer der Männergesellschaft und der Feudalgesellschaft. Der Oberklassemänner, der Feudalherren. Aber auch Sebastian, der Mann, der zum (Mit-)Täter wird, wird dies, weil er ein Opfer ist – ein Opfer der Klassengesellschaft.

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Für das dritte Opfer gibt es weniger gute Rechtfertigungsgründe: Denn ein Jahr nachdem Katherines Gatte verschwunden und für tot erklärt worden ist, taucht Teddy, ein vielleicht sechsjähriger Junge mit seiner Großmutter auf: „Teddy is the ward of your husband.“ sagt diese. Die beiden ziehen ein ins Herrenhaus, der Frühling kommt, doch als der Sommer vorbei ist, erstickt Katherine ihn mit dem Kissen. „It is done.“

Da bricht Sebastian zusammen, gesteht seine Verbrechen: „She is a desease.“ Aber natürlich schenken ihr, der Frau und der Angehörigen der Oberklasse, die Leute mehr Glauben, als dem Knecht. Die Oberklasse siegt.

Ein Interesse verdienender Nebenaspekt ist in diesem Film die Rolle der Farbigen: Denn Katherines Dienerin ist eine Schwarze, der Diener Sebastian hat „dunkles Blut“ und Teddy ist ist ein Mischling. Dies wird aber nie zum Thema und ich hätte gerne gewusst, wie exakt diese Schilderung ist: Waren im Großbritannien des 19. Jahrhunderts alle Rassen rechtlich gleich gestellt, gab es Rassismus? Und in welcher Form?

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„Lady Macbeth“ ist eine Adaption der Novelle „Lady Macbeth von Minsk“, die die Vorlage einer Shostakovich-Oper bildet. Faszinierend ist, wie es dem Film gelingt, dass man immer Verständnis und Anteilnahme für diese Person empfindet, obwohl Katherines Schuld hier evident ist.

Eine große stilistische Leistung eines erstaunlichen Debütfilms, der uns einmal mehr in die Welt von Jane Austen eintauchen lässt, aber endlich einmal die schwarze Seite aller Jane-Austen-Gefühlslagen zeigt.

Rüdiger Suchsland

„Der Faschismus hat viele Gesichter“

Will Donald Trump Edward Snowden exekutieren? Oliver Stone über Demokratie in Amerika – San Sebastian-Tagebuch_2016_04

„I am reporting, what I saw.“

Oliver Stone

„Als er zum Präsidenten gewählt werden wollte, sprach Barak Obama noch von Transparenz. Die Überwachung der Bürger, die Ausweitung der Geheimdienste und ihrer Macht, das werde er unterbinden ‚that’s not the american way.‘ verkündete er in seinen Reden. Jetzt, acht Jahre später, hat er als Präsident die Überwachungs-Politik von George W.Bush noch mehr als verdoppelt. The United States of America are the most massive global surveillance state, a way beyond Stasi.“ Oliver Stone redet sich langsam warm. Bei der Pressekonferenz zu seinem neuen Film „Snowden“ über den berühmtesten Whistleblower der Welt, der jetzt beim Filmfestival von San Sebastian seine Europapremiere erlebt, und zeitgleich in vielen europäischen Ländern startet, macht Stone klar, dass er seinen Film auch als eine sehr aktuelle Botschaft an das weltweite Kino-Publikum versteht.

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Heute kann Snowden im demokratischen Westen keine Zuflucht mehr vor den vielen Armen der US-Geheimdienste mehr erhoffen. „In den USA wird er kein faires rechtstaatliches Verfahren erhalten, und noch nicht einmal einen öffentichen Prozess – jedenfalls solange die Antiterrorgesetze in Kraft sind, die durch keine demokratische Regel gedeckt sind.“ Oliver Stone macht seinen Pubkt unmissverständlich klar: Die USA sind kein demokratischer Staat, kein Staat, der sich an rechtsstaatliche Prinzipien hält, sondern ein autoritäres Willkürregime. Die USA sind nicht besser, als Staaten wie Kuba, China oder die Türkei. Und ihre europäischen Verbündeten sind Satrapen und Erfüllungsgehilfen. „Als ein Geschöpf der Sechziger Jahre bin ich weiterhin schockiert, dass ausgerechnet Rußland das einzige Land auf der Welt ist, dass Snowden schützt, und das ihn überhaupt schützen kann.“

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Auf die tendenziös formulierte Frage eines lateinamerikanischen Journalisten, ob denn im Kampf gegen die ISIS nicht das Vorgehen von NSA, CIA und FBI gerechtfertigt sei, reagier Stone scharf und klar, und erhält Beifall im Saal, als er antwortet: „Solche Sprüche haben die Deutschen seinerzeit in den Dreißiger Jahren auch gehört. Das erste, was die Nazis ihnen damals sagten, war: ‚Wir bringen Euch mehr Sicherheit.'“ Heute drohe ein neuer Totalitarismus. „Der Faschismus hat viele Gesichter. Aber es gibt nie irgendeinen Grund, unsere Bürgerrechte zu opfern.“

Im Namen angeblicher Gefahren reagierten auch demokratische Regierungen heute mit extremistischen Antworten: „Ich will erst einmal den Beweis sehen, dass unsere Sicherheit tatsächlich auf dem Spiel steht. Die Regierung soll ihren Job machen. Das hat sie vor dem 11.September 2001 nicht gemacht. FBI und CIA haben es vermasselt. Sie haben die Zeichen nicht erkannt, weil sie in der Flut der Daten ersoffen sind. Diese Geheimdienste sind nicht sehr intelligent („This intelligence doesn’t seem so intelligent to me.“).

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Kann ein solcher Film etwas bewirken? Und was? Gibt es aus Stones Sicht überhaupt Hoffnung, dass sich die Verhältnisse wieder bessern? „Wir müssen irgendwo anfangen“ antwortet Stone auf derartige Fragen; die Situation sei ernst, jeder werde überwacht. Die Bürger der USA müssten jedoch verstehen, „dass der derzeit Weg Amerikas zu seiner Selbstzerstörung führt.“

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Mit den aktuellen Präsidentschaftswahlen in den USA habe sein Film und das Timing des Starttermins aber nichts zu tun. „Keiner der Kandidaten hat irgendetwas über den „surveillance act“, über das Überwachungsgesetz gesagt.“ Aber gegen Ende seines Films zitiert Stone kurz Donald Trump, den rechtspopulistischen Kandidaten der Opposition. Der hatte den Fall Snowden mit einer für ihn typischen extremen Forderung kommentiert: „There is still a thing called execution.“

Rüdiger Suchsland

Facetten der Gewalt

Zur Themen-Retrospektive „The Act of Killing“ – San Sebastian-Tagebuch_2016_03

„We aren’t madmen or sadists, gentlemen. Those who call us Fascists today, forget the contribution that many of us made to the Resistance. Those who call us Nazis, don’t know that among us there are survivors of Dachau and Buchenwald. We are soldiers and our only duty is to win.“

(Der französische Colonel Phillippe Mathieu in „The Battle of Algiers“, 1966)

Dänische Soldaten, eine EU-Eingreiftruppe irgendwo im Herzen der Neuen Kriege. 2010 begleitete der dänische Dokumentarfilmer Janus Metz Pedersen eine dänische Einheit nach Afghanistan und zeigte dabei, wie nahe unserem Alltag die Kriegs-Gewalt inzwischen wieder gekommen ist. Sein oscarnominierter Dokumentarfilm „Armadillo“ wurde bald zum frühen Klassiker des Kinos des 21. Jahrhunderts. Ein Film, der belegt, wie in den 15 Jahren seit dem 11.September 2001 längst vergessene, vergangen geglaubte Weltanschauungs- und Religionskämpfe in unsere Gesellschaften zurückgekehrt sind, wie sich der Westen hat hineinziehen lassen, in archaische Gewaltkonflikte. Aber v on wem reinziehen lassen? Von sich selbst. Der eigenen Blödheit.

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„The Act of Killing. Kino und globale Gewalt“ – so heißt jetzt die große thematische Retrospektive beim Filmfestival in San Sebastian. 32 Filme laufen da, alle recht neu – der früheste stammt aus dem Jahr 2000 und kommt aus Deutschland: „Die innere Sicherheit“ von Christian Petzold spürte eher den Folgen vergangener Gewalt nach, als er eine dreiköpfige Familie zeigt, die offenbar seit Jahren im Untergrund lebt; RAF oder so, Strandgut des Kalten Kriegs. Der Film ist gealtert, aber ganz gut. Bestimmte Manierismen wirken nicht mehr neu und aufregend, sondern nur noch manieriert. Julia Hummer funktioniert nicht so gut, finde ich, jedenfalls hatte ich sie viel besser in Erinnerung, Richy Müller und Barbara Auer aber schon. Was der Film in der Retro zu suchen hat, kann man nur damit beantworten, dass ja irgendwie alles Gewalt ist.

Tatsächlich geht es im Kino eigentlich immer um Gewalt. Insofern muss man eher klarmachen, wovon die Retrospektive nicht handelt. Hätte ich 32 Filmen zum Sujet auswählen sollen, hätte ich überlegt, ob es nicht besser wäre, nur Dokumentarfilme oder nur Spielfilme zu zeigen. Ich hätte Exploitation und B-Filme gezeigt, Torture-Porn, Thriller, bestimmt einen Film von Fincher und einen von De Palma und einen Takashi Miike und einen Park Chan-wook. Asien wird hier bemerkenswert ausgeblendet, denn Oppenheimers Indonesien-Filme zählen da nicht mit. Dafür der unvermeidliche Loznitsa.

Die Retrospektive ist mir also viel zu glatt, viel zu brav, viel zu erwartbar. Bieder. Andererseits ist es problematisch jetzt Fehlendes einzufordern, anstatt über das zu schreiben, was zu sehen ist. Das ist gut, nur halt sehr willkürlich zusammengestellt.

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Es geht also nicht allein um sichtbare Gewalt, sondern um Latenz, gesehene Gewalt. Das Problem dieser Retrospektive ist zweierlei: Wenn man parallel den Wettbewerb anguckt, begegnen einem in fast jedem Film in diesem Jahre zum irrsinnig krasse Gewaltdarstellungen. Mehr als einmal habe ich gedacht: Wozu braucht ihr dann denn noch eine Retrospektive? Das Thema ist zu allgemein. „Globale Gewalt“, hm. es geht dann noch vor allem um die neuen Kriege.

Ich hätte es, und dies ist das zweite Problem, interessanter gefunden, wenn man die aktuellen Filme mit früheren konfrontiert hätte. Da hätte man gemerkt, wie sich Gewaltdarstellungen wandeln, wie die Gewalt selbst sich wandelt, und das, was heute als Gewalt empfunden wird.

Vor drei Wochen hatte ich in Venedig in den „Classics“ Pontecorvos „The Battle of Algiers“ wiedergesehen. Toller Film. Der wurde einerseits damals bestimmt als ziemlich brutal empfunden, während heute die Konstruiertheit der Film-Brutalität viel deutlicher hervorsticht. Andererseits tun sich einem heutigen Zuschauer ungeahnte Parallelen zur Gegenwart auf: Der Tugendterror der FLN, die asketische Strenge der Revolutionäre, die zwar Linke waren, aber auch schon Islamisten, für die Religion ein Mittel ist, um ein Volk zu mobilisieren. Die Burka als Schutz vor Kontrollen, für Waffen- und Bombentransporte. Der Antiterrorkrieg, der selbst zum Terror wird.

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Die Frage nach der Gewalt wird in Spiel- wie Dokumentarfilm gestellt. Sie ist im Baskenland, wo der Terror der ETA noch lange nicht vergessen ist, und ein radikaler, mitunter gewalttätiger Nationalismus weiterhin blüht, von besonderer Aktualität. „La pelota vasca“, „Das baskische Ballspiel“ heißt ein großartiger Essayfilm, der 2003 bei diesem Festival Premiere hatte und der ebenfalls in der Retrospektive läuft. Der Baske Julio Medem, als Spielfilmregisseur weltbekannt, erzählt hier mit ruhiger, sicherer Hand die politische Kulturgeschichte seiner Heimat, und versucht den Terror und den gewalttätigen Nationalismus aus diesen Wurzeln zu erklären: Provinzielles Ressentiment, die Unsicherheit einer verspäteten Nation, die im 20. Jahrhundert reich wurde, aber politisch unterdrückt ist. Und der schamlose Populismus der Regionalparteien – es kommt einem deutschen Zuschauer überraschend vieles bekannt vor, an diesem baskischen Spiel.

Rüdiger Suchsland

Draculas Kutscher

Männer mit Trenchcoats: John Le Carre in Spanien – San Sebastian-Tagebuch_2016_02

„In the game of evolution, the winners are always the specialists.“

(aus: „El hombre de mil caras“)

Am Sonntag sind Wahlen in Berlin. Da wird sowieso Schlimmes bei herauskommen, insbesondere bei der Kulturpolitik. Ginge es nur um diese, dann müsste man nicht nur bei der Berliner Senatswahl FDP oder CDU wählen. Denn diese beiden Parteien haben zumindest noch einen Kulturbegriff. Bei allen anderen meint Kultur nach meinem Eindruck meistens nicht mehr als irgendetwas zwischen Multikulti-Stadtteilfest und dem Verbot, Praktikanten unter Mindestlohn zu bezahlen. Das sind ja auch alles schöne Dinge, es hat aber mit Kultur nichts zu tun. Grün ist echt langweilig, Jamaika in Berlin wäre aber mal lustig, nur ist das völlig außer Reichweite. Wen man für ihre Kulturpolitik in jedem Fall nicht wählen darf, ist die Berliner SPD. Da erinnere ich nur: DFFB, Humboldt-Forum, Berlinale, BE und Volksbühne. Zynismus und Dummheit geben sich Hand in der Entscheidung Chris Dercon zum Nachfolger von Frank Castorf zu ernennen.

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Wer das nicht glauben will, dem empfehle ich einfach, die immer mal wieder im Netz verfügbare ARTE-Sendung „Durch die Nacht mit…“ anzugucken, in diesem Fall „Durch die Nacht mit Chris Dercon und Matthias Lilienthal“. Da unterhalten sich die beiden recht schamlos über ihre Technik das Publikum zu verar… veralbern. Sie decouvrieren sich selbst. Und dann sagt der eine zum anderen Sätze wie „Mach was mit Hunden. Du musst was mit Hunden machen.“ Die Ahnungslosigkeit dieser Typen schreit zum Himmel und erschüttert zugleich.

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„Draculas Kutscher“, das könnte ein passender Spitzname für Tim Renner sein, den sogenannten „Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten“ in Berlin. Nur bleibt die Frage: Wer ist dann Dracula? Chris Dercon oder doch der Regierende Bürgermeister Michael „wie heißt der nochmal“ Müller.

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„Draculas Kutscher“ ist jedenfalls der Spitzname für Juan Alberto Belloch. Der war Mitte der 90er Jahre zuerst Justiz- und dann in Personalunion Innenminister in Spanien, der mächtigste Minister in der sozialdemokratischen Regierung von Felipe Gonzalez. Er ist eine der Hauptfiguren in den spanischen Polit-Thriller „El Hombre de mil Cajas“ („Der Mann mit den tausend Gesichtern“) von Alberto Rodriguez. Dieser Minister wird gezeigt als ein schamloser Karrierist, ein Mann, der klug genug ist, nie irgendwelche Papiere anzufassen. Er sagt immer nur: „Summarize!“

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Der Film beginnt mit einem Insert: „This is a true story. Like all true stories, it contains a few lies. This is the story of a liar.“

Eine so oder so wahnwitzige Geschichte. In deren Zentrum Francisco „Paco“ Paesa steht, ein Waffenhändler, der in den 80ern für den spanischen Geheimdienst arbeitete. Die hätten ihn mal besser korrekt bezahlt, denn als das nicht geschieht, rächt er sich. Er hilft dem korrupten Ex-Guardia-Civil-Offizier Luis Roldan, der auch Kronzeuge im Verfahren um die illegale versteckte (Antiterror-)Regierungseinheit GAL war, unterzutauchen und außer Landes zu gehen. Später dann hat Paco Roldan in Absprache mit ihm an Spanien ausgeliefert, für 300 Millionen und Immunität – aber erst nachdem er ihn um sein Vermögen von 1,5 Milliarden erleichtert hat. Draculas Kutscher verkündete dann in der Presse: „Wir haben nie irgendeinen Deal gemacht.“ Was er nicht wusste: Paco hatte auch die Regierung ausgetrickst, und ein paar Tage später musste Superminister Belloch dann als zweites Minister-Opfer von Paco, nach Innenminister Antonio Assuncion, zurücktreten.

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Ich werde alt. Ich nehme im Kino die Zeiten ohne Handy und Computer und Internet und mit richtigen Autos, nicht so Auto-Scooter-Schüsseln aus Plastik, als Gegenwart wahr.

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Ein schöner Film, schön altmodisch. Ein bisschen wie eine gute John-LeCarre-Verfilmung: Männer in Anzügen. Männer mit Trenchcoats. Männer mit Zigaretten. Männer in Autos. Richtigen Autos, wie gesagt. Schöne alte Mercedes-Limousinen. Große Teile spielen in Paris, in Montparnasse.

Eine Komödie der Korruption und des Alltagszynismus, die naseweise hübsche Sätze enthält, wie „Nobody said, getting rich was cheap“, oder „What is the safest place in France? The Israelian Embassy“. Oder „Dein Land ist das Geld.“ Oder der Dialog: „Warum kann Spanien nicht so eine Demokratie sein, wie Frankreich, England und Deutschland?“ – „Weil es hier so viele Spanier gibt.“

Roldan allerdings wirkt in dieser latenten Komödienstimmung zu sympathisch, zu niedlich. Man vergisst, dass dies ein Mann ohne Scham war, ohne Anstand und so richtig wird auch nie klar, wo der Mann eigentlich das viele Geld her hat.

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Paco selbst täuschte nach der ganzen Angelegenheit seinen Tod vor, wohl auch, um der Rache der Regierung zu entgehen, der offenbar in Spanien alles zuzutrauen ist. Die meisten seiner Mitwisser wurden ermordet. 2004 tauchte Paco dann aus dem Reich der Toten wieder auf. Bis heute lebt er von den Millionen im schönen Paris. Wie gesagt: Eine wahnwitzige Geschichte.

Rüdiger Suchsland

Über den Wolken

Phasen, Schmerzen und das Lied vom Tod – San Sebastian-Tagebuch_2016_01

„Ich veröffentliche, das heißt, ich versuche die Bedingung, in der ich mich befinde, zu ändern. Ich tue es mit vielen Zweifeln und viel Vorsicht. Zugleich ist dieses Publizieren meine einzige Rechtfertigung vor den anderen und vor mir selbst. Es ist auch meine Hoffnung, nicht umsonst gelebt zu haben.“

(Vilem Flusser)

San Sebastian ist ein schönes und gutes, oft großartiges Festival. Mehr noch aber: Es ist eine sehr schöne und großartige Stadt. Darum fahre ich seit vielen Jahren gern hierher. Der Hauptwettbewerb ist anständig, und qualitativ viel besser, als der von Locarno, das ja als Festival nur in Deutschland gern derart in den Himmel gehoben wird. Im zweiten Wettbewerb kann man immer was entdecken, und man begegnet ein paar Filmemachern, die man später in den Wettbewerben von Cannes und Venedig wiedertrifft. Allein Grund genug hierherzufahren, sind die Retrospektiven. Früher waren es drei, seit ein paar Jahren sind es nur noch zwei, aber das reicht ja. Eine vollständige Autorenretro; die ist in diesem Jahr Jacques Becker gewidmet – mal sehen. Ich kenne von ihm nur einen Film, weiß dass er einen guten Ruf hat, von der Nouvelle Vague aber auch nicht übermäßig geschätzt wurde, jedenfalls weniger als andere. Die zweite Retro ist eine thematische Schau. In diesem Jahr geht es unter der Überschrift „The Act of Killing“ um „Gewalt im Kino“. Da läuft sehr viel, 32 Filme, alle recht neu, auch sehr viel Erwartbares, aber doch ein paar Sachen, die ich schon immer mal sehen wollte.

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Früh am Freitagmorgen, die Stadt war noch im Halbdunkel, ging es los. Zu früh aufgestanden, noch früher aufgewacht. Das fängt ja schon wieder gut an. Fahrt nach Tegel. Im Flieger vor mir ein älteres Paar. Sie liest „emotion“, er „Spiegel Geschichte“:“Die wilden sechziger Jahre“ – das ist seine Jugend, denke ich. Ich erhasche die Schlagzeile: „Wir glauben an das Kino“. Bei ihr kann ich lesen: „Eine neue Energie war da. sie wußte jetzt wer sie ist. Setze Dich gegen die Angst durch, sonst ist es zu spät.“

Wahrscheinlich ist das immer so, bei jeder Lektüre. Es geht um Selbstbestätigung.

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Ich habe mir keine Zeitung gekauft. Im Gepäck unter anderem von Ilse Aichinger: „Film und Verhängnis“. Eine Autobiographie in Form einer persönlichen Filmgeschichte; sehr empfehlenswert. Ein Buch, das ich schon mal vor 15 Jahren oder so, zwar sehr gern gelesen, aber auch nur quergelesen habe, für eine Rezension. Dass ich eigentlich schon vor ein paar Monaten hätte lesen wollen. Für „Hitlers Hollywood“ kommt es nun zu spät.

Erstmal schöne Sätze wie der hier: „Der Nachmittag brach an, die bessere Tageszeit.“

Dann aber auch, sehr schnell, Doppelbödiges: „Auch an dem Tag, an dem der zweite Weltkrieg begann, war ich im Kino.“ Oder „Es war gefährlich nach der Wochenschau und ihren Siegesmeldungen zu kommen, nicht nur für diejenigen, denen es ohnehin nicht erlaubt war, ein Kino zu betreten.“

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Ilse Aichinger erzählt auch von ihrer „Ingmar Bergman-Phase“. Stimmt, so etwas hatte ich auch: Visconti-Phase. Bertulucci-Phase. Truffaut-Phase. Greenaway-Phase. Die Wenders-Phase war eher eine Pflichtübung, weil ich dachte, das muss man gucken und muss es auch gut finden, wenn man „von Kino was versteht“; wenn man ein Kulturmensch sein will. Wollte ich „ein Kulturmensch sein“?  Jetzt, wo ich das hinschreibe, zweifle ich dran. Später meine Film-Noir-Phase. Meine Hongkong-Phase. Überhaupt Asien.

Eine Godard-Phase hatte ich nie, auch keine Antonioni-Phase, und doch gehören beide zu den Filmemachern, die mir am meisten bedeuten. Ich überlege, ob ich heute noch „eine Phase“ habe. Wann ich zuletzt so „eine Phase“ hatte? Asien und Frankreich bedeuten mir sehr viel. Älteres italienisches Kino, das neue aber gar nicht. Dann eher Lateinamerikaner. Alte Filme, vor allem aus den 30er, 40er, 50er Jahren immer mehr. Darum finde ich Retrospektiven wie die in San Sebastian immer interessanter. Als die Filmschule, die ich nie hatte.

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Meine Berliner Schule-Phase ist inzwischen vorbei, komplett, ich merke, wie gelangweilt ich inzwischen bin, beim Gedanken an die meisten dieser Filme. Die Angst vor Aussagen und gesellschaftspolitischen Positionen. Botschaften solle man mit der Post verschicken, war aus dieser Gruppe schon vor zehn Jahren zu hören. Das ist in jeder Hinsicht Blödsinn. Davon abgesehen: Wer verschickt heute denn noch was mit der Post?

Für mich ist Christian Petzold einer der Fixsterne am deutschen Kinohimmel. So wie Til Schweiger. Und wie Dominik Graf. Fixsterne helfen der Orientierung. An ihnen kann man sich ausrichten, weil man sich auf sie verlassen kann. Wer sich mit dem deutschen Kino der Gegenwart auseinandersetzt, kann jedenfalls diese drei nicht ignorieren. Wer wäre da noch zu nennen? Oskar Roehler und Fatih Akin vielleicht noch. Die Filme von Dominik Graf mag ich. Die von Til Schweiger nicht. Die von Christian Petzold sind verlässlich. Man kann sich ihnen anvertrauen.

Vielleicht wird Maren Ade bald auch so ein Fixstern. Jenseits dieses „Wir-sind-Toni-Erdmann“-Hypes, haben ihre Filme etwas ganz Eigenes, Unverwechselbares, eine große Qualität. Sie repräsentieren etwas von dem Deutschland in dem wir leben. Darum müsste es gehen.

Heute Abend bekommt sie in San Sebastian den Preis der Internationalen Filmkritik, den „Prix fipresci“ für dfen besten Film des Jahres. Über 400 Filmkritiker haben abgestimmt, zuerst unter allen Filmen des Jahres, dann unter den drei meistgenannten. Ich war auch für „Toni Erdmann“.

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Flug über die Pyrenäen. Irgendwo da unten ist das Grab Walter Benjamins.

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Als Aichinger auf Sergio Leones berühmtesten Film “ C’era una volta il West“ zu sprechen kommt, denke ich auf einmal: Dass ausgerechnet die Deutschen dem Film den neuen Titel „Spiel mir das Lied vom Tod“ gaben. Die hatten es gerade nötig.

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Kurz darauf, der Sinkflug hat gerade begonnen, völlig unvermittelt ein stechender Schmerz im Kopf, vorne rechts. Genau so, wie mir das schon öfters andere erzählt haben: „Wie wenn jemand mit einer spitzen Nadel reingestochen hat.“ Oder wie ein Wespenstich. Aber das kann ja nicht sein in 10.000 Meter Höhe. Das rechte Auge tränt, wenn ich Stirn oder Kopfhaut berühre, tut’s noch mehr weh. Kurzer Gedanke: Ein Schlaganfall, wie mein Vater. Aber dann wäre es schlimmer. Eine Gesichtsrose. Vielleicht bekomme ich jetzt in meinem Alter plötzlich Migräne? Oder ein gerissener Muskel, ein gerissener Nerv? Angeschwollen ist nichts. Allmählich alles nach. Aber den ganzen Tag habe ganz leichte Lähmungen auf der rechten Stirnseite.

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Stopover in Madrid. Erstmal auf die Toilette, Blicke in den Spiegel, nichts zu sehen, kaltes Wasser macht auch nichts besser oder schlechter. Im Café treffe ich dann Janine Jackowski, die Produzentin von Maren Ade. Sie fliegt an deren Stelle zur Preisverleihung, weil das Kind der Regisseurin gestern krank geworden ist. Nicht ganz zu vergleichen, aber ich erinnere mich, dass Caroline Link seinerzeit nicht zur Oscarverleihung geflogen war – da war auch die Tochter krank. Familie geht vor, auch das ist eine eher neue und wie mir vorkommt besonders deutsche Entwicklung. Nicht jede Filmemacherin anderer Länder hätte genauso entschieden.

Janine bleibt dann auch noch nicht mal bis zum Empfang von German Films am Sonntag. „Zuviel zu tun“, sagt sie, obwohl sie noch nie hier war, und schon so viel von der Schönheit der Stadt und des Festivals gehört hat. Das ist mir schon öfters aufgefallen: Dass Filmemacher die Festivals nie genießen, genießen können. Dabei ist das und die Gespräche wie Zufallsbegegnungen mit dem Publikum doch der Sinn des Ganzen.

Mit Janine spreche ich ein bisschen über den auch für sie erstaunlichen Erfolg des Films. Und die vielen, die sich jetzt drauf setzen wollen, die es natürlich schon immer gewusst haben. Mir gehts eher so, dass mich der Erfolg für diese Regisseurin und diese Produzentin und ihre Firma freut. Aber ich habe Sympathie für die, die den Film vorher nicht einschätzen konnten. Wie soll man das auch ahnen? Hätte mir auch passieren können.

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Nach Ankunft dann die üblichen Dinge, die am ersten Tag noch zu erledigen sind: Zimmer beziehen, Akkreditierung und Kataloge holen – es gibt hier außer dem recht nutzlosen Hauptkatalog ein sehr nützliches Buch für jede Retro -, und dann noch das fahrrad. wie in Venedig ist man auch hier mit dem Fahrrad am besten unterwegs.

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Dann der Eröffnungsfilm. Die Französin Emmanuelle Bercot erzählt in „La Fille de Brest“ von einer Ärztin, die allein gegen alle, und ein bisschen wie Julia Roberts in „Erin  Brokovich“ gegen das Gesundheitssystem kämpft, und einen Skandal aufdeckt, der Menschenleben kostet. Nach zwei Stunden dachte ich, das dies ein sehr durchschnittlicher Film sei, aber da waren erst 40 Minuten vorbei. Langatmig und irgendwie armselig – wie man mit so etwas eröffnen kann, ist mir schleierhaft, denn es ist gar keine Frage, dass hier noch viel bessere Filme laufen werden. Die Regisseurin hat sich nicht getraut, einen unspektakulären Film zu drehen, und daher alles mit untauglichen Mitteln und Pseudospannung aufgepeppt. Das geht ja los.

Rüdiger Suchsland

Darlings, Hype und Ephemeres

Venedig_2016_12: Warum nur? Warum Lav Diaz? Das Weltkino tritt zur Zeit auf der Stelle

„What I recognize accross all eight movies, was lack of compromise, imagination, original vision, daring…“ Originell, gewagt, kompromisslos – für ihn sei dies der beste Film gewesen, sagte Jurypräsident Sam Mendes auf der Abschlusspressekonferenz in Venedig, und meinte damit nicht etwa den Sieger, sondern Tom Fords Wettbewerbeitrag „Nocturnal Animals“, der einen der beiden Jurypreise bekommen hatte. Ein kleiner Affront, der ebenso wie die Teilung des Preises für die beste Regie zwischen den sehr ungleichen Filmemachern Amat Escalante aus Mexiko und Andreij Konchalowsky aus Rußland Bände sprach.

Offenbar war die Jury in diesem Jahr sehr gespalten in ihrem Geschmack und zwischen Künstleregos wie Laurie Anderson, Joshua Oppenheimer und eben Sam Mendes, der am Ende der Preisverleihung den Hauptpreis verkündete: „The Golden Lion for best film, goes to „The Woman who left“ by Love Diaz.“

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Es ist schon seltsam und auch ein bisschen absurd: Nach zwölf Tagen eines außerordentlich vielfältigen Wettbewerbs, mit Filmen, die die Grenzen zwischen Genre- und Autorenkino mehr als einmal durchbrochen haben, die in vielen Fällen zumindest versuchten, neues Terrain fürs Kino zu erschließen, gewinnt ausgerechnet der Film, der mit am deutlichsten für klassisches Autorenkino steht: Mit einfachsten Mitteln, zum Teil mit Laien gedreht und in Schwarzweiß. Aus den Filmen im Wettbewerb stach „The Woman who Left“ vom philippinischen Regisseur Lav Diaz vor allem durch eines heraus: Seine Länge von fast vier Stunden.

Dagegen, die brave Ordnung des Kinobetriebs ein bisschen durcheinanderzuwirbeln, ist nichts zu sagen. Und ein Opernbesuch dauert ja oft viel länger. Man fragt sich allerdings, was das Werk des Phillipinos eigentlich so großartig macht, dass seine Filme zur Zeit auf nahezu jedem größeren Festival auftauchen, und dort auch noch Hauptpreise gewinnen: In den letzten zwei Jahren in Locarno, bei der Berlinale und nun der Goldene Löwe in Venedig.

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Denn auch „The Woman who Left“ steht vor allem Simplizität in jeder Hinsicht, beiläufig und aus der Hüfte gefilmt, nicht besonders poetisch, sondern vor allem „Arte Povera“ die dem internationalen Autorenkino und dem Industriefilm Hollywoods und seinem Glamourbetrieb eine lange Nase dreht. Aber Lav Diaz kann sich zur Zeit eben alles leisten, er ist der neueste Darling der internationalen Autorenfilmszene, die offenbar gerade von sich selber derart gelangweilt ist, dass die Provokation um ihrer selbst willen schon ausreicht, um Erfolg zu haben.

Warum nur? Warum Lav Diaz? Am Nachmittag war ich mit meiner türkischen Freundin und Kollegin Nil auf der Architekturbiennale gewesen. Da gibt es einen tollen Raum zur „ephemeren Architektur“, deswegen fällt mir jetzt dieses Wort ein: Lav Diaz macht ephemere Filme, Filme die schon wieder verschwinden, wenn man sie gerade erst gesehen hat. In der Vorstellung, die ich gesehen habe, sind die Hälfte der Kollegen in der ersten Stunde von fast vier Stunden rausgegangen. Nicht aus prinzipiellem Desinteresse. Sondern weil man das alles schon kennt und es nicht wirklich spannend ist. Weil es einschläfernde Filme sind. Einer der Hauptgründe für den Lav-Diaz-Hype der letzten Jahre ist der, dass kaum einer diese Filme gesehen hat.

Dieser Film wird auch mit einem Goldenen Löwen nicht ins Kino kommen. Aber so funktioniert eben der Hype, den es natürlich auch in der Kunstszene nicht weniger gibt, wie anderenorts.

Ist wirklich noch mehr dahinter? Allein die Menge der Filme, die dieser Regisseur derzeit Jahr für Jahr in die Welt wirft, und ihre jeweilge Länge – unter dreieinhalb Stunden geht nämlich für diesen Regisseur gar nichts -, spricht schon dafür, dass hier einer gar nicht mit übermäßig viel handwerklicher Sorgfalt oder intellektuellem Aufwand arbeiten kann – es muss also wohl ein Genie vom philippinischen Himmel gefallen sein.

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Zumindest in einer Hinsicht repräsentierte „The Woman who Left“ aber genau den Trend des diesjähtigen Venedig-Jahrgangs: Die Hinwendung zu historischen Themen, die fast ein bisschen eine Flucht des Kinos vor der Stellungnahme zur Gegenwart wirkt.

„The Woman who Left“ spielt nämlich im Jahr 1997 und interessiert sich vor allem für die Tode von Prinzessin Diana und von Mutter Theresa und eine Kidnapperserie in Manila – und die Frage, wie dies die Hauptfiguren hier mitnimmt.

Aktuell brennendere Stoffe, die nicht in vergangenen Zeiten, sondern direkt in der Gegenwart spielen, gab es im Wettbewerb wenig. Am ehesten noch im Erwachsenenmärchen „La Region Salvaje“ des Mexikaners Amat Escalante. Nicht einfach „ein Märchen“, sondern ein sehr sinnliches Märchen. Und im Film der in den USA lebenden Iranerin Ana Lily Amirpour, die eine dystopische Kannibalenliebesgeschichte erzählt, auf die sich zu wenige der professionellen Festivalbesucher einlassen wollten – der Jurypreis hierfür eine gleichwohl sehr verdiente Auszeichnung.

Diese Filme versöhnen nicht, sondern spalten das Publikum.

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Der Trend zum Historischen ist, so interessant das im Einzelnen sein mag, als Gesamttrend besorgniserregend. Warum muss man, wenn man über politisches Charisma redet, eigentlich über Kennedy reden? Und dann noch über Jackie?

Man könnte auch über Obama einen Film machen, oder über Putin – aber die kann natürlich nicht Nathalie Portman spielen.

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Hinter allem Preisverteilen, Freude und Ärger und nicht zuletzt hinter der jungmädchenhaften Begeisterung der meist nicht mehr ganz jungen weiblichen Fans von Lav Diaz belegt der diesjährige Wettbewerb wie schon der von Cannes (der der Berlinale sowieso) vor allem eines: Sie wissen es nicht! Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Das Weltkino tritt auf der Stelle, der alte Autorenfilm regrediert (Kusturica! Wenders!!), der junge tritt auf der Stelle und variiert ein paar ausgeleierte Stilmittel. Die besten unter ihnen finden Mischformen wie Amirpour und Escalante, oder ersticken alle Kritik durch Virtuosität und betäuben den Zuschauer durch handwerkliche Perfektion – wie man, ganz ehrlich jetzt, François Ozons Film beschreiben muss, der sehr gescheit ist und gut gemacht, aber auch letztlich nichts bringt, und genausogut auch nicht existieren könnte.

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Hanns-Georg Rodek hat dazu einen interessanten Text in der „Welt“ geschrieben. Entscheidender Absatz: „Die Auswahl bezeugte profunde Ratlosigkeit, möglicherweise nicht die des Festivaldirektors Alberto Barbera (dessen Vertrag bis 2020 verlängert wurde), sondern einer ganzen Branche. Seit der Jahrhundertwende sind Geschäftsmodelle zerstört, Kundengewohnheiten umgepolt, Techniken revolutioniert worden, und Venezia 73 fühlte sich wie eine Versammlung der Weitermacher an, ohne Vision, ohne Mut.“

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Bleibt noch eines anzumerken: Kein einziger Preis für irgendeinen italienischen Film.

Rüdiger Suchsland

Frühstücksreis und abends Preis

Venedig_2016_11: Eine gespaltene Jury vergibt die Preise bei der „Mostra Internazionale di Cinema“ – Gedanken während der Preisverleihung

Man soll halt nicht so negativ denken. Die Juryergebnisse waren dann alles in allem zwar nicht super, aber erfreulicher, als von mir zuvor befürchtet (und erwartet).

Gerade der Anfang der Preisverleihung am Samstagabend verlangte aber starke Nerven: Der Portugiese, der den Schauspielerpreis in der Orrizonti-Sektion bekam, sabbelte geschlagene zehn Minuten über das Leben der armen Portugiesen, und den bösen Euro – mag alles stimmen, gehört hier aber nicht hin und bringt der Sache auch nichts.

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Diesen Film hatte ich nicht gesehen. Sehr wohl aber den spanischen Film „Tarde para la Ira“, für den die Hauptdarstellerin den Preis bekam. Das hat mich gefreut, weil der Film – eine Kriminalstory um einen Bankräuber, der nach acht Jahren aus dem Gefängnis kommt, und von einem Mann als Geisel genommen wird, der gute Gründe hat, sich zu rächen – weil dieser Film einer der unterhaltsamsten und handwerklich besten im diesjährigen Festival war. Kleiner Schönheitsfehler: Das ist ein richtiger Männerfilm, in dem auch die weibliche Hauptrolle eigentlich nur eine Nebenrolle ist. Dafür redete die Dame dann auch gefühlte zehn Minuten, und unser unvergleichlicher Freund Ugo Brusaporco, schimpfte laut: „Impossibile, impossibile.“ Das ging ja schon mal gut los.

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Dann gab es den Orrizonti-Spezialpreis der Jury, und den bekam Reha Erdem für „Big Big World“, der am Tag zuvor auch den „Bisato de Oro“ gewonnen hatte, den Ugo und seine Freunde – also glücklicherweise auch ich – bereits am Freitag Tag zuvor vergeben hatten. Im Film sucht ein Geschwisterpaar vor der Welt in einem Wald Zuflucht – lakonisch und sehr effektiv erzählt, dabei berückend und poetisch geht es um die Freiheit und ihre Grenzen. Reha sagte einfach „Merci beaucoup!“ und ging von der Bühne. Applaus im Saal für die kurze Rede, er hätte auch sagen können: Schluss mit dem Gelaber!

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Und weiter: Preis für Beste Regie im „Orrizonti“ an das großartige belgische Generationsdrama „Home“ – super! Über den Film hatte ich bereits ausführlich geschrieben. Der beste Film war laut der Jury „Libera mi“, ein italienischer Dokumentarfilm über Exorzisten in Sizilien, den ich dann am Abend noch nachgeholt habe. Unglaubliche, ungesehene Bilder aus dem Sizilien der Gegenwart! in den nächsten Tagen schreibe ich was drüber.

Kurz gesagt: Die Preise trafen genau die Richtigen. Fast. Denn auch dem argentinischen „Kékszakállú“ von Gastón Solnicki hätten wir noch etwas gewünscht.

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Dann die Wettbewerbsjury: Gleich der allererste Preis, Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin, ging an Paula Beer. Nachdem Wim Wenders‘ „Die schönen Tage von Aranjuez“ allgemein durchgefallen war, gab es damit doch noch einen Preis für eine Deutsche: Die zwanzigjährige Beer bekam ihn sehr verdient für ihre Hauptrolle in François Ozons „Frantz“, einer deutsch-französischen Liebesgeschichte über den Gräbern des Ersten Weltkriegs – vor Freude brach sie noch auf der Bühne in Tränen aus. Danach dankte sie dann – gut sie war gerührt – nicht etwa dem Regisseur oder der Jury, sondern ihrer Casting-Agentin und ihrem Coach und ihren Agenten – und das ist dann leider wieder so typisch deutsch im schlechten Sinne. Komischerweise dankt nie ein Schauspieler aus Frankreich oder Italien oder irgendeinem anderen Land Casting-Agenten und Schauspielcoachs. Aber so ist das halt bei uns… Sagt ja auch was über die hiesige Filmszene.

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Mit dem „Special Jury Award“ an Ana Lily Amirpour hätte ich nie gerechnet. Amirpour ist halt deine coole Frau, und darum sagte sie dann so schnoddrig wie schon am Dienstag bei der Pressekonferenz: „I guess that’s it, thank you, find a dream.“ Auch das sagt fast alles. Mir ist’s sympathischer.

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Als der Preis fürs Beste Drehbuch dann an Larraíns „Jackie“ ging, wusste man, dass einer der Favoriten bereits aus dem Feld geschlagen war: Denn in Venedig kann jeder Film nur einen Preis bekommen. Gut so, dachte ich, als dann Larraíns Bruder mit dem altkatholischen Namen Juan De Dios Larraín auf der Bühne stand und arg glatt daherredete.

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Die Schauspielpreise „Copa Volpi“ ließen dann weitere Hauptpreiskandidaten purzeln: Oscar Martinez hielt eine Rede, die man nach einem Film wie „El Ciudadano Illustre“, der sich über Reden bei Kulturereignnissen lustig macht, eigentlich nicht mehr halten kann. War aber lustig. Und er hat vier Töchter, denen er namentlich einzeln dankte. Emma Stone für „La La Land“ war nur per Videobotschaft (noch nicht einmal live) vertreten, wie zuvor schon der Drehbuchautor von „Jackie“. Es reißt allmählich ein, dass alle Amis nur noch über Video da sind. So könnte man auch ein ganzes Festival veranstalten, und wir schauen dann von zuhause zwei Wochen lang Streams. Man sollte es so machen, dass nur die noch einen Preis kriegen, wenn sie auch kommen. Das würde manche Entscheidungen erleichtern.

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Dann der Regiepreis. Geteilt! Auch noch zwischen Amat Escalante und Andreij Konchalowsky. Größer konnten die Unterschiede nicht sein. Konchalowsky redet auf Italienisch vom „grande patria russia“, die so viel geopfert hat. Oh je!

Und dann der Goldene Löwe für Lav Diaz. Jubel und Buhs im Saal. Oh je oh je…

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Am vorletzten Abend habe ich übrigens etwas Lustiges erfahren. Lav Diaz mag offenbar keine Hotels, darum hat er sich mit seiner Entourage ein paar Zimmer gemietet, in einer Wohnung, die während des Festivals komplett vermietet wird. Sie liegt im ersten Stock, direkt über der „Bar Maleti“ in der wir jeden Abend irgendwann sitzen. So kommt Kees, einer der angeblich drei Holländer, die in Venedig sind, zu der Erfahrung, zusammen mit Lav Diaz zu wohnen.

Kees erzählt, dass der Meister sehr früh aufsteht, vielleicht Jet-Lag-bedingt, und dass ihm seine Assistentinnen morgens zum Frühstück Reis kochen.

Rüdiger Suchsland

Wer gewinnt den Goldenen Löwen?

Venedig_2016_10: Viel Geschichte, wenig Gegenwart; wer sollte gewinnen und wer wird es? – eine vorläufige Bilanz vor der Preisverleihung beim Filmfestival in Venedig

Nathalie Portman, seit ihrer Kindheit und dem Film „Leon der Profi“ ein Hollywood-Star, ist in Venedig nicht nur als Jacqueline Kennedy zu sehen, und eine Favoritin auf den Schauspielpreis an diesem Wochenende (wir berichteten). Portman spielt auch in einem zweiten Venedig-Film die Hauptrolle, der von der Macht der Bilder erzählt: „Planetarium“ der dritte Spielfilm der im Prinzip großartigen, auch persönlich sehr geschätzten Französin Rebecca Zlotowski, erzählt, frei im Umgang mit Details, aber im Kern nahe an der historischen Wahrheit, eine vollkommenen vergessene Episode der französischen Kinogeschichte in den 30er Jahren und der berühmten Pathé-Studios im Schatten von Antisemitismus und Faschismus. In diesem flirrenden Epochenportrait spielt Portman eine Amerikanerin, die in Paris gemeinsam mit ihrer Schwester als Medium in Varietés auftritt – und vom Film angeworben wird. Ein faszinierender Einblick in die Welt vor dem Zweiten Weltkrieg.

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paradise

Diese Welt spielt – als Erinnerung an glücklichere Zeiten – auch eine Rolle in „Paradise“ vom 79-jährigen Russen Andrei Konchalowsky. Dieser von vielen hier, vor allem Italienern und Russen allzu erwartbar abgefeierte, aus meiner Sicht extrem fragwürdige Film erzählt von einer Handvoll Menschen im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen einem adeligen SS-Führer (Christian Clauss) und einer russischen Prinzessin (Julya Vysotskaya), die aus dem französischen Exil in einem deutschen Vernichtungslager landet. Es ist nicht Liebe, eher eine sado-masochistische Abhängigkeit zwischen beiden, die in den sicheren Untergang führt, und hart am Rand der Geschmacklosigkeit entlangleitet, diesen Rand mehr als einmal überschreitet. Vom Faschismus als Verführungsmaschine zu erzählen, ist immer riskant, aber unbedingt den Versuch wert. Nur ist das den Italienern Visconti („Die Verdammten“), Pasolini („Saló“), Cavani („Nachtportier“) und Wertmüller „Die sieben Schönheiten“) schon vor Jahrzehnten um einiges besser gelungen. Denn Konchalowsky schwankt unentschieden zwischen Annäherung an die Erfahrungen seiner Figuren und Distanzierung. Auch mischt sein episodisch gehaltener Film viel zu viele Themen krude durcheinander: Russisches Exil nach 1917, Resistance, Adel in Deutschland, Völkermord, Lageralltag, Korruption im Krieg – sogar esoterische Erfahrungen wie das Gefühl einer „dämonischen Präsenz im Raum“, als eine Hauptfigur zur Audienz bei Himmler geladen ist. Schließlich wirken seine farblosen, in digitalem Grau in Grau gehaltenen Bilder seltsam aseptisch und distanzieren zusätzlich.

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Geschichte und „bedeutende“ Themen ziehen immer. So ist Konchalowsky – wie auch der Chilene Pablo Larraín mit „Jackie“ über die Kennedy-Witwe – einer der Favoriten bei der Preisverleihung am heutigen Abend. Zu denen gehört auch der Franzose Stephane Brizé, dessen schüchterne Maupassant-Verfilmung zwar eine recht zähe Angelegenheit ist, die so vor sich hin mäandert, und alles ausgespart, was die Erzählung vom unglücklichen Leben einer Landadeligen im frühen 19. Jahrhundert interessant macht – und sich leider gerade in diesem Nicht-Zeigen gefällt.

Diese Filme scheinen gute Jury-Kompromisse zu sein, zumal Entscheidungen in Venedig selten radikal sind, und in der diesjährigen Jury mit Sam Mendes, Laurie Anderson und Joshua Oppenheimer Amerika dominiert, und Vertreter experimenteller Mischformen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Aber auch die Deutsche Nina Hoss und ihre französische Kollegin Chiara Mastroianni entscheiden mit über den Goldenen Löwen.

Von dieser Jury erwarte ich nicht viel Gutes. Aber man kann sich ja täuschen. Vielleicht muss der Venezuelaner Lorenzo Vigas, der letztes Jahr gewann, ja heute Abend seine Schulden an Mexiko zurückzahlen…

Am Ende weiß man sowieso nie vorher, was in so einer Jury passiert,

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Insofern: Was sollte passieren? Mein persönlicher Goldener Löwe geht an Amat Escalante für „La Region Salvaje“, der „Große Jurypreis“ Ana Lily Amirpour für ihre US-Dystopie „The Bad Batch“, die nur den einen Fehler hat, dass sie sich zu ernst nimmt. Und der Regiepreis an François Ozon.

Und was wird passieren? Worst Case wäre ein Goldener Löwe an Larraín. Zweitschlechte Lösung an Konchalowsky, drittschlechteste an Brizé. Ich persönlich glaube, dass Brizé gewinnt, oder Larraín, dem ich aber noch eher den Regiepreis zutrauen.

Einziger echter Trost: Preise sind sowieso überschätzt. Richtig gute Filme brauchen sie nicht, vor der Filmgeschichte setzen sie sich oft durch. Und schlechten Filmen können sie auch nicht helfen. Deswegen wäre jeder Preis für Larrain schlecht: Weil dieser Film noch der beste ist, und dann das Volk glaubt, das tauge wirklich etwas.

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Überhaupt quoll der Wettbewerb zumindest gefühlt gerade zum Schluss von Historischem über: Brizé, Konchalowsky, Larraín, Ozon, Lav Diaz.

Aktuell brennendere Stoffe, die nicht in vergangenen Zeiten, sondern direkt in der Gegenwart spielen, gab es im Wettbewerb wenig. Am ehesten noch im heiter-melancholischen „Ein illustrer Bürger“ aus Argentinien über einen Nobelpreisträger, der sein Heimatdorf besucht. Ansonsten war die Jetztzeit vor allem metaphorisch präsent: In humanistischer Science-Fiction wie „Arrival“ von Denis Villeneuve, im Erwachsenenmärchen „La Region Salvaje“ des Mexikaners Amat Escalante. Doch diese Filme versöhnen nicht, sondern spalten das Publikum – schwer zu glauben, dass sich eine Jury auf sie einigen kann. Oder gewinnt doch das Musical „La La Land“, das den Reigen vor elf Tagen eröffnete?

Über alle Preise hinweg werden Escalantes Märchen, Villeneuves poetische Spekulation, und Ana Lily Amirpours apokalyptische Love-Story „The Bad Batch“ diejenigen Filme sein, die im Gedächtnis bleiben von einem Jahrgang voller Vielfalt, aber ohne die ganz großen Meisterwerke, ebenso wie über echte Schwachpunkte.

Rüdiger Suchsland