Die Langeweile in der Repression

Venedig_2016_04: „Home“, der herausragende Film von der Belgierin Fien Troch in der „Orrizonti“-Reihe

„Wenn man annimmt, daß die Gesellschaft aus Menschen bestehe, geht es in der Erziehung gewissermaßen um ihre Substanz.“

Niklas Luhmann, „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“

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Es geht schon los mit einer sehr guten Szene: Ein Lehrer oder sogar der Schuldirektor gibt einer Schülerin einen Verweis. Sie heißt Lina, später wird sie noch eine Rolle spielen. Vermutlich hat sie etwas sehr Blödes gemacht, vielleicht ist der Verweis berechtigt, aber darum geht es hier gar nicht. Sondern der Lehrer lässt Lina gar nicht zu Wort kommen, und ihre Sicht der Dinge beschreiben. Wir sehen dafür nur in ihr Gesicht. Er will auch nicht hören, was sie sich selbst gedacht hat. Er ist, wie die Gesellschaft: Er will nur, dass sie funktioniert, gehorcht, seiner Sicht der Dinge widerspruchslos folgt. Er ist im Grunde unfähig zur Kommunikation, und er ist in seiner ganzen Attitude viel zu streng. Zugleich ist er wie alle, wie man sie eben kennt: Ob Behörden oder Gerichte, manche Redakteure, für die man arbeitet, oder viele Presseabteilungen auf Filmfestivals: Die Sache interessiert nicht, sondern die Macht. Wer sich durchsetzt. Und dass es schnell geht: Menschen, Schüler in diesem Fall, halten das System bei seinem Funktionieren auf.

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Erst traut man seinem Urteil nicht, fragt sich selbst: Musst Du schon wieder anderer Meinung sein? Ist das nur Oppositionsgeist? Dann aber ist es klar. Dieser Lehrer ist wirklich einfach zu streng, diese Schule, dieser ganze Typ Schulen, wie er ganz alt ist und neuerdings wieder in Mode, ist unfähig zu Kommunikation. Schon deswegen wird er sein Erziehungsziel nicht erreichen – weil er nicht verstanden wird.

So ist es hier Schülern verboten, im Flur zu stehen. Man muss sich bewegen, auf dem Weg zu irgendwas oder von irgendwas sein. Als ein Schüler am Anfang dem Hausmeister sagt: „Nur zwei Sekunden“, weil er eine sms schicken will, wird er angeschrien. Zwei Sekunden Stehen sind nicht erlaubt. Warum? Egal, es ist Vorschrift. So wird man keine freien Menschen erziehen – aber seien wir ehrlich: Das will man ja auch gar nicht. Sondern man will Funktionsträger im sozialen System produzieren, Rädchen im Getriebe.

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Dass Systeme in erster Linie ihren Selbsterhalt und ihre Selbstgenügsamkeit sichern, auch auf Kosten derjenigen, für die sie überhaupt konstruiert wurden, ist nichts Neues. Was wir aber zur Zeit in unseren Gesellschaften erfahren, ist, dass diejenigen, die da untergebuttert werden, sich zur Wehr setzen, auch mit destruktiven Mitteln. Die Machtergreifung der Systeme korrespondiert mit der Selbstermächtigung der vom System Ausgeschlossenen.

Früher hieß das mal „Macht kaputt, was Euch kaputt macht.“ Es mag sich dabei um Notwehr handeln, doch es ändert nichts daran, dass sie ähnlich destruktiv ist. Die Antwort auf falsche Erziehung lautet nicht „We don’t need no education.“

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Aber wer ist eigentlich schuld, wenn Schulen wie Strafanstalten funktionieren, mit Überwachen und Strafen, und mit Lehrern, die unfähig zur Kommunikation sind? Wer ist eigentlich schuld, wenn zuhause von den Eltern Gleichgültigkeit oder ungebremstes Laissez-Faire herrscht. Wenn die pubertierenden Jungs kleine Paschas sind, und die Mütter freiwillig zum Dienstpersonal ihrer Kinder werden?

„Home“, der herausragende Film von der Belgierin Fien Troch – und es ist bemerkenswert hier, dass es sich um eine Frau handelt, denn übermäßig mütterfreundlich ist der Film nicht, und bei einem männlichen Regisseur würde man das kommentieren – zeigt Kinder, die Mist bauen und Erwachsene die überfordert sind, und die noch größeren Mist bauen. Die Mütter wie gesagt sind generell zu soft in absurder Weise und gelegentlich zu streng, gleichfalls absurd. Die Väter sind einfach nur abwesend. Diese Eltern verwöhnen die Kinder viel zu sehr, das soll alles andere ersetzen. Diese Eltern machen immer sauber, räumen immer auf. Äußere Ordnung ersetzt innere, ersetzt Erziehung.

Es geht um eine Gruppe von Jugendlichen. Kevin, Sohn kommt aus dem Knast, soll bei Tante Sonja, der Schwester der Mutter untergebracht werden. „He really is a good boy“ sagt sie. Ganz so kann man das aber nicht sagen: Kevin hat, wie wir öfters erleben werden, ein „anger-management-problem“.

Kevin hat einen Passanten zusammengeschlagen und immer wieder auf den am Boden liegenden getreten. Das fasziniert Lina als sie es im Netz sieht. Lina ist die Freundin von Sammy, Sonjas Sohn, der der Oberpascha unter den Kids ist: selbstgefällig und bequem. Als wir ihn und Lina zum ersten Mal zusammen sehen, holt sie ihm einen runter.

Ein anderer Freund leidet unter seiner Mutter und ihrem fanatischen Reinlichkeitswahn. Sie missbraucht ihren Sohn in vielfacher Weise: „Das ist meine Zone, das ist deine Zone“, in der Wohnung. Aber auch sexuell. Was diesem natürlich keiner glaubt. „They say I am old enough to deal with it.“

„I want to kill someone to feel alive.“ postet Sammy später auf Facebook. Keine Sorge, er wird das nicht tun.

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Smartphones überall, Smartphone-Bilder, soziale Netzwerke, ihre gigantische Bedeutung. Die zweite Welt neben der scheinbar realen, die wir für „unsere“ halten. Die Regisseurin portraitiert die Lebenswelten der Jugendlichen, so wie sie sich selbst erscheinen: Darin erinnert „Home“ an „Kids“ und „Ken Park“, an „The Virgin Suiciders“ und „Palo Alto“, als „Elephant“ und „Paranoid Parc“. Auch im musikalischen Stil und der Bedeutung der im Übrigen großartigen Musik. Und in Szenen, in denen der Film ganz atmosphärisch wird, die Kids einfach nur zeigt.

Worum gehts in „Home“? Darum. Um das Lebensgefühl. Um die Langeweile in der Repression. Um kleine Fluchten: Musik, Gewalt, Sex.

Was passiert? Dafür muss man sich „Home“ schon selbst ansehen.

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„Home“ nimmt konsequent Partei für die Jugendlichen, das ist das Gute. Er hält sich nicht mit Moralisieren und mit Schuldzuweisung auf. Das Schöne an diesem Film ist. dass er zeitgemäß ist. Nicht zu abstrakt, nicht aus der Welt gefallen. Nicht auf alle und jede Verhältnisse übertragbar.

Wer könnte so etwas in Deutschland machen?

Rüdiger Suchsland