Venedig_2016_10: Viel Geschichte, wenig Gegenwart; wer sollte gewinnen und wer wird es? – eine vorläufige Bilanz vor der Preisverleihung beim Filmfestival in Venedig
Nathalie Portman, seit ihrer Kindheit und dem Film „Leon der Profi“ ein Hollywood-Star, ist in Venedig nicht nur als Jacqueline Kennedy zu sehen, und eine Favoritin auf den Schauspielpreis an diesem Wochenende (wir berichteten). Portman spielt auch in einem zweiten Venedig-Film die Hauptrolle, der von der Macht der Bilder erzählt: „Planetarium“ der dritte Spielfilm der im Prinzip großartigen, auch persönlich sehr geschätzten Französin Rebecca Zlotowski, erzählt, frei im Umgang mit Details, aber im Kern nahe an der historischen Wahrheit, eine vollkommenen vergessene Episode der französischen Kinogeschichte in den 30er Jahren und der berühmten Pathé-Studios im Schatten von Antisemitismus und Faschismus. In diesem flirrenden Epochenportrait spielt Portman eine Amerikanerin, die in Paris gemeinsam mit ihrer Schwester als Medium in Varietés auftritt – und vom Film angeworben wird. Ein faszinierender Einblick in die Welt vor dem Zweiten Weltkrieg.
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Diese Welt spielt – als Erinnerung an glücklichere Zeiten – auch eine Rolle in „Paradise“ vom 79-jährigen Russen Andrei Konchalowsky. Dieser von vielen hier, vor allem Italienern und Russen allzu erwartbar abgefeierte, aus meiner Sicht extrem fragwürdige Film erzählt von einer Handvoll Menschen im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen einem adeligen SS-Führer (Christian Clauss) und einer russischen Prinzessin (Julya Vysotskaya), die aus dem französischen Exil in einem deutschen Vernichtungslager landet. Es ist nicht Liebe, eher eine sado-masochistische Abhängigkeit zwischen beiden, die in den sicheren Untergang führt, und hart am Rand der Geschmacklosigkeit entlangleitet, diesen Rand mehr als einmal überschreitet. Vom Faschismus als Verführungsmaschine zu erzählen, ist immer riskant, aber unbedingt den Versuch wert. Nur ist das den Italienern Visconti („Die Verdammten“), Pasolini („Saló“), Cavani („Nachtportier“) und Wertmüller „Die sieben Schönheiten“) schon vor Jahrzehnten um einiges besser gelungen. Denn Konchalowsky schwankt unentschieden zwischen Annäherung an die Erfahrungen seiner Figuren und Distanzierung. Auch mischt sein episodisch gehaltener Film viel zu viele Themen krude durcheinander: Russisches Exil nach 1917, Resistance, Adel in Deutschland, Völkermord, Lageralltag, Korruption im Krieg – sogar esoterische Erfahrungen wie das Gefühl einer „dämonischen Präsenz im Raum“, als eine Hauptfigur zur Audienz bei Himmler geladen ist. Schließlich wirken seine farblosen, in digitalem Grau in Grau gehaltenen Bilder seltsam aseptisch und distanzieren zusätzlich.
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Geschichte und „bedeutende“ Themen ziehen immer. So ist Konchalowsky – wie auch der Chilene Pablo Larraín mit „Jackie“ über die Kennedy-Witwe – einer der Favoriten bei der Preisverleihung am heutigen Abend. Zu denen gehört auch der Franzose Stephane Brizé, dessen schüchterne Maupassant-Verfilmung zwar eine recht zähe Angelegenheit ist, die so vor sich hin mäandert, und alles ausgespart, was die Erzählung vom unglücklichen Leben einer Landadeligen im frühen 19. Jahrhundert interessant macht – und sich leider gerade in diesem Nicht-Zeigen gefällt.
Diese Filme scheinen gute Jury-Kompromisse zu sein, zumal Entscheidungen in Venedig selten radikal sind, und in der diesjährigen Jury mit Sam Mendes, Laurie Anderson und Joshua Oppenheimer Amerika dominiert, und Vertreter experimenteller Mischformen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Aber auch die Deutsche Nina Hoss und ihre französische Kollegin Chiara Mastroianni entscheiden mit über den Goldenen Löwen.
Von dieser Jury erwarte ich nicht viel Gutes. Aber man kann sich ja täuschen. Vielleicht muss der Venezuelaner Lorenzo Vigas, der letztes Jahr gewann, ja heute Abend seine Schulden an Mexiko zurückzahlen…
Am Ende weiß man sowieso nie vorher, was in so einer Jury passiert,
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Insofern: Was sollte passieren? Mein persönlicher Goldener Löwe geht an Amat Escalante für „La Region Salvaje“, der „Große Jurypreis“ Ana Lily Amirpour für ihre US-Dystopie „The Bad Batch“, die nur den einen Fehler hat, dass sie sich zu ernst nimmt. Und der Regiepreis an François Ozon.
Und was wird passieren? Worst Case wäre ein Goldener Löwe an Larraín. Zweitschlechte Lösung an Konchalowsky, drittschlechteste an Brizé. Ich persönlich glaube, dass Brizé gewinnt, oder Larraín, dem ich aber noch eher den Regiepreis zutrauen.
Einziger echter Trost: Preise sind sowieso überschätzt. Richtig gute Filme brauchen sie nicht, vor der Filmgeschichte setzen sie sich oft durch. Und schlechten Filmen können sie auch nicht helfen. Deswegen wäre jeder Preis für Larrain schlecht: Weil dieser Film noch der beste ist, und dann das Volk glaubt, das tauge wirklich etwas.
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Überhaupt quoll der Wettbewerb zumindest gefühlt gerade zum Schluss von Historischem über: Brizé, Konchalowsky, Larraín, Ozon, Lav Diaz.
Aktuell brennendere Stoffe, die nicht in vergangenen Zeiten, sondern direkt in der Gegenwart spielen, gab es im Wettbewerb wenig. Am ehesten noch im heiter-melancholischen „Ein illustrer Bürger“ aus Argentinien über einen Nobelpreisträger, der sein Heimatdorf besucht. Ansonsten war die Jetztzeit vor allem metaphorisch präsent: In humanistischer Science-Fiction wie „Arrival“ von Denis Villeneuve, im Erwachsenenmärchen „La Region Salvaje“ des Mexikaners Amat Escalante. Doch diese Filme versöhnen nicht, sondern spalten das Publikum – schwer zu glauben, dass sich eine Jury auf sie einigen kann. Oder gewinnt doch das Musical „La La Land“, das den Reigen vor elf Tagen eröffnete?
Über alle Preise hinweg werden Escalantes Märchen, Villeneuves poetische Spekulation, und Ana Lily Amirpours apokalyptische Love-Story „The Bad Batch“ diejenigen Filme sein, die im Gedächtnis bleiben von einem Jahrgang voller Vielfalt, aber ohne die ganz großen Meisterwerke, ebenso wie über echte Schwachpunkte.
Rüdiger Suchsland