Im Offenen: Lolitas, Katzen, Freiheitskämpfer – „Orphan“ von Arnaud Des Pallieres und „Lady Macbeth“ von William Oldroyd; San Sebastian-Tagebuch_2016_05
„Kiki – whats going on?“
(aus: „Orphan“)
Der Film geht einfach los. Bilder aus einem Frauenknast, wir sind sofort in einem Genre, glauben wir zumindest, und sehr unmittelbar in einem bestimmten Typ Film drin: Naturalismus, soziale Institutionen, eine bewegliche Kamera, die nahe an ihren Protagonisten dran ist, zugleich zurückhaltend beobachtend bleibt, schöne Menschen in hässlichen Verhältnissen, Dardennes! Gemma Aderton spielt Tara, die Frau aus dem Gefängnis, sie wird entlassen, wir sehen sie in einem Zug.
Dann wird, der Film ist gerade fünf Minuten alt, umgeschaltet an einen völlig anderen Ort: Ein Kindergarten. Adele Haenel spielt hier tatsächlich wie in einer unmittelbaren Fortsetzung des letzten Dardennes-Films „La Fille Inconnu“, in dem sie eine selbstlose Ärztin der Armen spielte, eine engagierte Schuldirektorin. Dann wird sie von Tara besucht, die für sie offensichtlich ein unangenehmer Besuch ist aus ihrer Vergangenheit. Tara will Geld, viel Geld – und bekommt es. Kurz darauf kommt die Polizei zu ihr nach Hause. Ob sie Karine Rosinsky sei? Sie nickt, wird verhaftet, in Handschellen abgeführt.
Wieder wechselt die Szene, nun steht ein junges Mädchen im Zentrum. Sasha, gespielt vom Pariser Shooting-Star Adele Exarchopoulos. Wir sehen, dass sie Arbeit sucht, wie sie einen älteren Mann trifft, Lev, der „ein Kind adoptieren“ will. Lev ist nett zu ihr, ein cooler Mann der sich cool in einer gefährlichen Welt bewegt. Er gibt ihr Arbeit in der Pferderennbahn, wo er als Profi-Wett-Anbieter und Geldverleiher viel Geld verdient. Sie verführt ihn – „When did you last fuck? Have you jerked off, thinking of me? How many times?“ -, da haben wir schon längst begriffen, dass diese junge Frau mit Lolita-Attitüden zwar scheu und verwundbar ist, aber stark, wenn es darum geht, instinktiv die Begierden und Schwachpunkte der Menschen zu erkennen. Die von Lev, aber auch die von Tara, die jetzt auch bei der Pferderennbahn arbeitet. Sascha sieht sofort, dass Tara, obwohl sie ein Baby hat, auf Frauen steht.
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Zunächst wirkt dieses episodische Wechselspiel zwischen drei Figuren, drei Orten rätselhaft, chaotisch und unzusammenhängend, doch schnell webt der französische Regisseur Arnaud Des Pallieres („Michael Kohlhaas“) diese losen Episoden und Schauplätze, zu denen später noch zwei weitere hinzu kommen, zu einem immer dichteren Netz.
In diesem dritten Schauplatz, dem faszinierend-fremden Milieu der Pferde-Wett-Szene und des riskanten Lebens am Rande der Legalität, des schnellen Geldes, der schnellen Schulden, des täglichen Exzeß‘, der Spieler, Bankiers und Geldtransporter, hält sich der Film erstmals länger auf. und doch bietet er vor allem Momentaufnahmen, deren Verbindung im Auge des Betrachters liegt, die er selbst zu leisten hat. Irgendwann wird Sasha, die Verführerin selbst zur Verführten, und dann geht alles sehr schnell: Eine Tote wird auf einer Bahre weggetragen, Tara wird verhaftet, Sasha nicht und zum ersten Mal entsteht eine Ahnung davon, was wir hier tatsächlich sehen.
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Wieder ein Wechsel, der vierte Schauplatz, die vierte Hauptfigur: „T’a quel age?“ – „Piss off asshole“, ein Nachtclub, die Kamera ruht ganz auf dem unschuldigen, hübschen Gesicht eines Mädchens, die vielleicht 13,14, vielleicht 15,16 ist. Karine hat eindeutig eine Macke, aber man versteht schnell auch warum: Der Vater schlägt sie will sie kontrollieren in derart manischer Weise, dass sie nur ausreißen kann. Mal schläft sie im Wald, mal bei Männern, die ihr selten Gutes wollen. Die Polizei hilft ihr gegen den Vater.
Die fünfte Szenerie ist ein Trailerpark nahe einem Schrottplatz im Sommer. Französischer White-Trash. Die etwa neunjährige Kiki spielt mit ihren Freunden Verstecken. Aber auch nach langem Suchen auf dem Schrottplatz, in der Halle zwischen Regalen und in alten Tiefkühltruhen kann sie die Freunde nicht finden. erst spät am Abend finden die Nachbarseltern sie: Tot.
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Es ist ziemlich hervorragend, wie es Arnaud Des Pallieres gelingt, seinen Film, lange im Offenen, Vagen zu halten, ohne dass es je diffus wird. Es ist der straighteste Film von De Paillieres, den ich kenne.
Die Zeitstruktur des Kinos und ihre impliziten Vorgaben führen uns zunächst an der Nase herum: Erst dann verstehen wir, dass es sich bei den vier Frauen und dem Mädchen Kiki vor allem um eine einzige handelt, bei den fünf Erzählschichten um fünf Phasen und entscheidende Augenblicke ihres Lebens, in denen sie von vier Darstellern verkörpert wird. Kiki und Sasha sind Karine, die auf der Pferderennbahn auf Tara traf, die sie zu einem Raubüberfall überredete, bei dem eine Geldbotin starb. Tara saß acht Jahre dafür ein, Karine hatte das Geld und baute sich damit ein neues Leben auf. Heraus schält sich so die Erzählung des Schicksals einer jungen Frau, die zum Opfer und zur Täterin wurde, und die nun von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Sie wird sich ihrer Schuld stellen.
„Orphan“ ist geprägt von seiner geschickten Erzählstruktur, die dem Zuschauer vieles erst mit der Zeit verrät – dies ist ohne Frage der stilistisch ambitionierteste und einer der besten Beiträge im bisherigen Wettbewerb der Filmfestspiele von San Sebastian.
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Der letzte Teil des Films zeigt, wie Karine aus der Untersuchungshaft entlassen wird, doch der Prozeß droht erst noch, wie ihr Lebensgefährte Darius versucht, die Hochschwangere außer Landes zu schaffen, um „neu anzufangen“. Doch kaum ist das Kind – in Rumänien – geboren, entschließt sich Karine zur Rückkehr nah Frankreich. Sie meldet sich an der nächsten Polizeistation und wird sich ihrer Vergangenheit stellen.
Offen, im besten Sinn vage bleibt hier aber die moralische Konsequenz: Denn was folgt? Sie lässt ihr neugeborenes Kind allein, so wie ihre Eltern sie allein ließen. Obwohl sie weiß, was das bedeutet. Obwohl sie weiß, dass ihre Abschiedsworte „Ich liebe Dich. Ich komme wieder“ von dem Baby nicht verstanden werden, und möglicherweise nie eingelöst werden. Und wer weiß schon, was Darius dem Kind erzählt, wo er mit ihm hingeht? Macht Karine nicht den gleichen Fehler, der an ihr getan wurde? Oder sie macht die Dinge richtig? Der Film vertraut am Ende den Institutionen. Die doch kein Vertrauen verdienen. Oder?
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Es dominiert immer ein Gefühl der Gefahr, der Unsicherheit, es ist das Lebensgefühl von Karine, die sich auf nichts verlassen kann. Wir sehen wie wichtig ihr Ordnung ist, das Aufräumen, und so ist „Ophan“ kein Film über Schuld und Sühne, kein Film über Männer und Frauen, sondern ein Thriller über Entscheidungssituationen, über die kleinen Momente, in denen alles im Leben anders wird, oder geworden wäre, hätten wir anders entschieden. Und es ist ein Film darüber, wie gefährlich das Leben für Frauen und kleine Mädchen ist, und wie schlecht es die Welt oft mit ihnen meint.
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„Film forever“ heißt das Motto im Logo des BFI.
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Das erste Bild zeigt ein junges Gesicht unter einem Schleier im Hochzeitskleid. Der Ausdruck ist freundlos aber entschlossen. Sie singt: „Lobet den Herren.“ Das zweite Bild zeigt, wie sie von einer schwarzen Dienerin entkleidet wird und dann ihr das Nachthemd angezogen wird. „Your’e cold?“ – „No“ – „Nervous?“ – „No“. Dieser erste Dialog macht sofort den Diskurs der Kälte auf, ihrer Kälte. Der Bräutigam tritt ein: Ob sie es bequem habe? Ob es ihr kalt sei? Sie solle nicht soviel rausgehen. Sie antwortet „I have a thick skin.“ Und: „I like the fresh air.“
Auch diese Katherine ist eine Frau mit Fehlern. Sie ist die Hauptfigur des hervorragenden britischen Films „Lady Macbeth“ von William Oldroyd. Angesiedelt wie Shakespeares Stück in den schottischen Highlands, allerdings Mitte des 19.Jahrhunderts, geht es um eine junge Frau (Florence Pugh), die in eine Zwangsehe gepresst wird.
Wie unsympathisch die Verhältnisse sind, daran lässt der Film keine Zweifel.
„Take it off. Your nightdress, take it off.“ sagt ihr Mann, dann „Face to wall!“, dann befriedigt er sich selbst.
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„Face to wall!“, „Stop smiling“ – als Katherine dann wochenlang allein ist, während der Mann die Güter inspiziert, sagt sie zu den Knechten genau die Sachen, die sie von ihrem Mann gehört hat. Sie geht auch viel raus, lässt ihre Haare offen vom Wind durchblasen, holt eine Katze zu sich ins Haus. Sie scheint autoritär, doch Sebastian, einer der Knechte, versteht die Zeichen der Worte und Blicke besser: „I am terribly bored, Mrs. Lester. Aren’t you bored, Katherine?“ Und dann beginnt eine Affaire.
Die bleibt nicht unverborgen, und da der Gatte weiter fern ist, statt ihr der Pfarrer einen Besuch ab: „Perhaps a little more solitude and relaxation could help.“ Die wirft ihn heraus.
Den Schwiegervater kann sie nicht herauswerfen, er ist der nächste Gast im Haus, während der Ehemann sich weiterhin nicht blicken lässt. Er versucht, ein brutales Strafregiment zu etablieren. Dazeigt der Film, wie die Großgrundbesitzer noch im 19. Jahrhundert ihre Leute wie Sklaven behandelten: Sie werden verprügelt und in Ketten gelegt: „You behave like an animal, so I will will treat you like one.“ Katherine reagiert mit gleicher Münze: Sie verabreicht dem Schwiegervater ein Pilzgericht. Und er stirbt. Es sieht wie ein Unfall aus. Nur die Katze sah zu und scheint zu wissen, was geschah.
Als der ungeliebte, sie vernachlässigende Ehemann irgendwann doch zurückkehrt, dauert es nur wenige Minuten, bis er ihr Vorhaltungen macht: „My father bought you along with a piece of land. The whole county heard about your shameful behaviour. I do not like beeing talked aobut, Madame. You will alter your behavior, Madame.“
Worauf sie ihn mit dem Schurhaken erschlägt. Dann verbuddeln Sebastian und sie ihn, erschießen sein Pferd und er scheint spurlos verschwunden.
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William Oldroyd zeigt einen Eskalationsprozeß. Er zeigt eine junge Frau, die zunächst nicht mehr will, als geliebt werden, die dann nicht bereit ist, zu einer Gefangenen archaischer Standesvorschriften und ihres Dienstpersonals zu werden. Und die für ihre Freiheit, dafür ein eigenes Leben zu haben, bereit ist über Leichen zu gehen.
Katherine ist eine Frau, die zur Täterin wird, weil sie ein Opfer ist – ein Opfer der Männergesellschaft und der Feudalgesellschaft. Der Oberklassemänner, der Feudalherren. Aber auch Sebastian, der Mann, der zum (Mit-)Täter wird, wird dies, weil er ein Opfer ist – ein Opfer der Klassengesellschaft.
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Für das dritte Opfer gibt es weniger gute Rechtfertigungsgründe: Denn ein Jahr nachdem Katherines Gatte verschwunden und für tot erklärt worden ist, taucht Teddy, ein vielleicht sechsjähriger Junge mit seiner Großmutter auf: „Teddy is the ward of your husband.“ sagt diese. Die beiden ziehen ein ins Herrenhaus, der Frühling kommt, doch als der Sommer vorbei ist, erstickt Katherine ihn mit dem Kissen. „It is done.“
Da bricht Sebastian zusammen, gesteht seine Verbrechen: „She is a desease.“ Aber natürlich schenken ihr, der Frau und der Angehörigen der Oberklasse, die Leute mehr Glauben, als dem Knecht. Die Oberklasse siegt.
Ein Interesse verdienender Nebenaspekt ist in diesem Film die Rolle der Farbigen: Denn Katherines Dienerin ist eine Schwarze, der Diener Sebastian hat „dunkles Blut“ und Teddy ist ist ein Mischling. Dies wird aber nie zum Thema und ich hätte gerne gewusst, wie exakt diese Schilderung ist: Waren im Großbritannien des 19. Jahrhunderts alle Rassen rechtlich gleich gestellt, gab es Rassismus? Und in welcher Form?
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„Lady Macbeth“ ist eine Adaption der Novelle „Lady Macbeth von Minsk“, die die Vorlage einer Shostakovich-Oper bildet. Faszinierend ist, wie es dem Film gelingt, dass man immer Verständnis und Anteilnahme für diese Person empfindet, obwohl Katherines Schuld hier evident ist.
Eine große stilistische Leistung eines erstaunlichen Debütfilms, der uns einmal mehr in die Welt von Jane Austen eintauchen lässt, aber endlich einmal die schwarze Seite aller Jane-Austen-Gefühlslagen zeigt.
Rüdiger Suchsland