Die Bedeutung der Autonomie: Basken, Deutsche und Japaner – San Sebastian-Tagebuch_2016_09
Von Rüdiger Suchsland
„Gibt es in Deutschland heute noch Nazis?“
„Ja natürlich gibt es noch Nazis. Wo sollen die denn auch alle hingegangen sein.“
Heinrich Böll in einem Interview 1960
Nach den Berliner Stadt-Wahlen vom Sonntag werde ich hier ziemlich oft sinngemäß gefragt, ob jetzt in Deutschland bald wieder die Nazis an die Macht kommen? Für feinere Unterscheidungen zu plädieren, macht da nicht mehr Sinn, als wenn ein Amerikaner uns zu erklären versucht, warum wir vor Donald Trump keine Angst haben müssen.
+++
Jetzt sitze ich wieder mal im „Cafe Artess“ auf der Terasse, und das Festival von San Sebastian neigt sich dem Ende zu, und ich lasse das Festival Revue passieren, dass bei uns in Deutschland immer noch stark unterschätzt wird.
Wer hier alles in diesem Jahr da war! Sigourney Weaver, Isabelle Huppert, Jennifer Connelly, Ewan McGregor, Ethan Hawke, Oliver Stone, Francois Ozon, Hugh Grant, Gael Garcia Bernal.
+++
Am Morgen hatte ich die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Amat Escalante. Der Mexikaner hatte in Venedig vor ein paar Wochen den Regiepreis gewonnen, für „La Region Salvaje“, für mich der beste Film des Wettbewerbs. Escalante ist sehr sympathisch, ruhig und klug.
+++
An diesem Sonntag sind im Baskenland Regional-Wahlen. Die Regierung wird wiedergewählt, das Baskenland ist eine der reichsten Regionen Spaniens, ähnlich wie Bayern dank Hilfe der Zentralregierung. Auch ähnlich wie in Bayern reagieren die Regionalisten undankbar.
Zur Zeit allerdings verliert das Baskenland gerade wirtschaftlich an Boden. In der hiesigen Zeitung dem „Diario Vasco“ las ich diese Woche eine detaillierte Aufstellung. Wichtigste Folge der Wahl könnte die Zerschlagung der linken Volkspartei sein, der PSOE, die durch die Linkspopulisten der PODEMOS in Schwierigkeuten gebracht werden. Im deutschlandfunk höre ich dazu eine Formulierung, die ich als politisch recht tendenziös empfinde: Die PSOE würde die Wiederwahl des die in Madrid regierenden Konservativen Rajoy und seiner PP „verhindern“. „Verhindern“ – das klingt so destruktiv, als handle es sich um eine Blockadehaltung. Hat man vergessen, dass die PP der politische Gegner der PSOE ist? Um jetzt mal nicht von den politischen Skandalen der PP, von der himmelschreienden PP-Korruption in Valencia zu reden (wer mehr wissen will, kann ja mal diese Namen googeln: Rita Barberá, Marcos Benavent, Maria Jose Alcon), und davon, dass die PP bis heute in weiten Teilen die politische Nachfolgepartei der Falange ist. der spanischen Faschisten. Aber seit wann ist die Opposition der Steigbügelhalter der Regierung, wenn die die Mehrheit verloren hat?
+++
Ein spannender PODEMOS-Film war vorhin zu sehen. „Politica, manual de instrucciones“ („Politik, eine Gebrauchsanleitung“)[Die Bedeutung der Autonomie: Basken, Deutsche und Japaner – San Sebastian-Tagebuch_2016_09
Von Rüdiger Suchsland
„Gibt es in Deutschland heute noch Nazis?“
„Ja natürlich gibt es noch Nazis. Wo sollen die denn auch alle hingegangen sein.“
Heinrich Böll in einem Interview 1960
Nach den Berliner Stadt-Wahlen vom Sonntag werde ich hier ziemlich oft sinngemäß gefragt, ob jetzt in Deutschland bald wieder die Nazis an die Macht kommen? Für feinere Unterscheidungen zu plädieren, macht da nicht mehr Sinn, als wenn ein Amerikaner uns zu erklären versucht, warum wir vor Donald Trump keine Angst haben müssen.
+++
Jetzt sitze ich wieder mal im „Cafe Artess“ auf der Terasse, und das Festival von San Sebastian neigt sich dem Ende zu, und ich lasse das Festival Revue passieren, dass bei uns in Deutschland immer noch stark unterschätzt wird.
Wer hier alles in diesem Jahr da war! Sigourney Weaver, Isabelle Huppert, Jennifer Connelly, Ewan McGregor, Ethan Hawke, Oliver Stone, Francois Ozon, Hugh Grant, Gael Garcia Bernal.
+++
Am Morgen hatte ich die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Amat Escalante. Der Mexikaner hatte in Venedig vor ein paar Wochen den Regiepreis gewonnen, für „La Region Salvaje“, für mich der beste Film des Wettbewerbs. Escalante ist sehr sympathisch, ruhig und klug.
+++
An diesem Sonntag sind im Baskenland Regional-Wahlen. Die Regierung wird wiedergewählt, das Baskenland ist eine der reichsten Regionen Spaniens, ähnlich wie Bayern dank Hilfe der Zentralregierung. Auch ähnlich wie in Bayern reagieren die Regionalisten undankbar.
Zur Zeit allerdings verliert das Baskenland gerade wirtschaftlich an Boden. In der hiesigen Zeitung dem „Diario Vasco“ las ich diese Woche eine detaillierte Aufstellung. Wichtigste Folge der Wahl könnte die Zerschlagung der linken Volkspartei sein, der PSOE, die durch die Linkspopulisten der PODEMOS in Schwierigkeuten gebracht werden. Im deutschlandfunk höre ich dazu eine Formulierung, die ich als politisch recht tendenziös empfinde: Die PSOE würde die Wiederwahl des die in Madrid regierenden Konservativen Rajoy und seiner PP „verhindern“. „Verhindern“ – das klingt so destruktiv, als handle es sich um eine Blockadehaltung. Hat man vergessen, dass die PP der politische Gegner der PSOE ist? Um jetzt mal nicht von den politischen Skandalen der PP, von der himmelschreienden PP-Korruption in Valencia zu reden (wer mehr wissen will, kann ja mal diese Namen googeln: Rita Barberá, Marcos Benavent, Maria Jose Alcon), und davon, dass die PP bis heute in weiten Teilen die politische Nachfolgepartei der Falange ist. der spanischen Faschisten. Aber seit wann ist die Opposition der Steigbügelhalter der Regierung, wenn die die Mehrheit verloren hat?
+++
Ein spannender PODEMOS-Film war vorhin zu sehen. „Politica, manual de instrucciones“ („Politik, eine Gebrauchsanleitung„). Fernando León de Aranoa, einer der politisch engagiertesten Filmemacher Spaniens, der 2002 für „Los lunes al sol“ („Mondays in the Sun“) die Goldene Muschel gewann, hat den Aufstieg der Bewegung mit der Kamera begleitet und die 400 Stunden Material jetzt in Form eines Langzeitdokumentarfilms auf die Leinwand gebracht. Innenansichten des Marschs in die Institutionen.
+++
Im Baskenland, so ist zu lesen, haben sie jetzt eine eigene Bank mit einem speziellen Angebot: 1 % Kreditzinsen für die Kreativindustrie. Mikel Garcia-Prieto vom regionalen Kulturinstitut erklärt: „culturalize the economy instead of financing the culture.“ Klingt gut. Trotzdem fehlt hier sonderbarerweise ein Angebot der Filmförderung für europäische Koproduktionen. Dabei könnten die Basken die Südtiroler Spaniens sein, zumal die Katalanen mit ähnlich günstigen Voraussetzungen den Bereich Film bisher völlig verschlafen haben.
+++
Was auch ein Stück des Charmes von San Sebastian ausmacht: Man lernt hier gut Leute kennen. In diesem Jahr Inaki, der sich irgendwann einfach freundlich und neugierig an meinen Tisch gesetzt hat, und sich als ein Mitarbeiter des Festivals entpuppte. Er macht Einführungen zu Filmen und Regisseursvorstellungen. Seitdem sind wir uns ein paarmal über den Weg gelaufen. Inaki ist ein echter Baske und erzählt immer in den kurzen Gesprächen irgendetwas Hintergründiges, Kontextualisierendes, von dem er glaubt, es könne für mich interessant sein. Morgen wählt er PODEMOS, obwohl er sagt er sei eher konservativ. Aber er will die Opposition stärken. Heute hat er von seiner Einführung für einen baskischen Film und der anschließenden Diskussion erzählt, die natürlich auf Baskisch geführt wurde. In den ersten Reihen: Lauter baskische Funktionäre und Politiker, die im Rudel drin sitzen, nur in baskische Filme gehen, und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen für ihr künstlerisches Engagement. Einer von ihnen habe ihn, den Basken, dann danach an die Seite genommen, um ihm zu sagen, das Baskisch sei ja schon recht gut gewesen. Aber das eine Wort, das habe er nicht richtig ausgesprochen. „Da gibt es eine richtige Sprachpolizei.“
+++
Eine Einführung von Inaki habe ich gesehen. Sie galt dem Franzosen Jean-Gabriel Periot, den man in Deutschland als Dokumentarfilmer kennt. Sein „Une Jeunesse Allemande“ war vor einem Jahr der Geheimfavorit vieler Berlinale-Besucher, als er im Panorama Premiere hatte. Jetzt lief „Lumieres d’ete“ („Lichter des Sommers“), sein erster Spielfilm.
Der beginnt allerdings in den ersten zwanzig Minuten wie ein Dokumentarfilm, obwohl hier offenkundig inszeniert wurde: Eine alte Japanerin wird von einem jungen japanischen Regisseur namens Akihiro interviewt, sie ist eine Zeitzeugin des 6.8.45 in Hiroschima, und erzählt ihr Erleben: Ein heißer Sommer, der Eindruck, der Krieg würde zu seinem Ende kommen, „In the spark of a moment, the world had changed. … But even here, life goes on.“
+++
Danach lernt der Regisseur im Park am Fluß von Hiroshima im Gespräch eine junge Frau kennen. Sie kommen ins Gespräch, die junge Frau ist charmant, aufgeweckt und milde flirtend, zugleich sehr ernsthaft und auf unaufdringliche Weise etwas altmodisch. Sie weiß viel über das Hiroshima unmittelbar nach dem Bombenabwurf der Amerikaner, erzählt Akihiro davon, und man verbringt den Nachmittag zusammen, fährt zur Küste, lernt dort einen alten Fischer und seinen Enkel kennen. Eine sehr bewegliche Kamera folgt den Figuren sehr nahe, während die vier einen Abend mit Grill, Spielen, Musik und Gesprächen verbringen. Wir sehen ein Feuerwerk, das Meer, Landleben, alles, was man so toll findet an Japan, und ab und an kann man sich in einen Naomi-Kawase-Film versetzt fühlen.
Irgendwann wird dann der Schleier über der Pointe gelüftet: Die junge rätselhafte Frau ist ein Geist, der Geist von Michiko, jener Schwester der interviewten Augenzeugin des Anfangs, die den Atomblitz scheinbar unversehrt überstanden hatte, Tage später aber an der Strahlenkrankheit grausam gestorben war. Das alles ist unaufdringlich, beiläufig mit großer Selbstverständlichkeit erzählt. Ein unerwarteter Film von Periot, dem man zwar die Melancholie des Films, nicht aber dessen Sentimentalität zugetraut hätte.
+++
Schließlich eine überaus positive Überraschung: Der japanische Animationsfilm „Kimi No Na Wa“ von Makoto Shinkai. In den ersten Bilder prasselt ein Kometenhagel auf die Erde. Doch es war wohl nur ein Traum: „Once in a while I wake up“ sagt eine Stimme aus dem Off, „und habe das Gefühl, ich hätte etwas verloren.“
Pubertät: Mitsuha, ein junges unglückliches Mädchen mit kleiner Schwester in einer Provinzstadt, sattes Grün, Sonne, Pastellfarben, Wahlkampf für die Bürgermeisterwahlen. Zwei Freundinnen, ihre Väter konkurrieren um Bürgermeisteramt. Der Film legt geschickt falsche Spuren. Den später erinnere ich mich daran, dass ich überlegte, wer wohl die Wahl gewinnt? „Who are you?“ – die Frage wird wiederkehren, und in der Pubertät ist es keine Überraschung, wenn Identitäten ins Wanken geraten.
„Gestern…“ – alle reden mit ihr von Gestern – „Gestern warst Du ganz anders, irgendwie abwesend, gestern war es als littest Du unter Amnesie.“ In dieser Kleinstadt, so heißt es, gäbe es keinen Buchladen, kein Krankenhaus, keine Jobs. „I hate this town! I hate this life! I want to be a boy in Tokio.“ Und dann träumt sie genau das: Ein Junge in Tokio, Taki. Und bald verstehen wir: Das Girl auf dem Land und Junge in Tokio switchen unfreiwillig Identitäten – „Kimi No Na Wa“ ist nur zu Anfang ein scheinbar konventionelles Teenagerpubertätsdrama. Doch bald ist erkennbar, dass es um ganz anderes und viel Anspruchsvolleres geht; Zeitreisen, Identitätstausch, ein Meteoreinschlag und eine Naturkatastrophe.
+++
Zuerst scheinbar humorvolle Teenagerkomödie, in dem Mitsusha Taki Tips fürs Date gibt, obwohl wir wissen, dass nicht nur im „Seishun Eiga“ (Teenie-Liebesgeschichte) beide füreinander bestimmt sind, und es ein Lacher ist, wenn das Date-Girl ihm sagt „You are like a different person today.“
Dann in der zweiten Hälfte einer ziemlich komplizierten Erzählstruktur begibt sich „Kimi No Na Wa“ auf die Spuren großer Vorbilder: der Science-Fiction-Filme „Blade Runner“ und „ghost in the Shell“. Futurismus trifft Melancholie in dieser philosophischen Geschichte, in der zwei Schüler in die Zeit zurückreisen, um Menschenleben zu retten. Existentialistisch, romantisch, nostalgisch japanische Traumfabrik.]. Fernando León de Aranoa, einer der politisch engagiertesten Filmemacher Spaniens, der 2002 für „Los lunes al sol“ („Mondays in the Sun“) die Goldene Muschel gewann, hat den Aufstieg der Bewegung mit der Kamera begleitet und die 400 Stunden Material jetzt in Form eines Langzeitdokumentarfilms auf die Leinwand gebracht. Innenansichten des Marschs in die Institutionen.
+++
Im Baskenland, so ist zu lesen, haben sie jetzt eine eigene Bank mit einem speziellen Angebot: 1 % Kreditzinsen für die Kreativindustrie. Mikel Garcia-Prieto vom regionalen Kulturinstitut erklärt: „culturalize the economy instead of financing the culture.“ Klingt gut. Trotzdem fehlt hier sonderbarerweise ein Angebot der Filmförderung für europäische Koproduktionen. Dabei könnten die Basken die Südtiroler Spaniens sein, zumal die Katalanen mit ähnlich günstigen Voraussetzungen den Bereich Film bisher völlig verschlafen haben.
+++
Was auch ein Stück des Charmes von San Sebastian ausmacht: Man lernt hier gut Leute kennen. In diesem Jahr Inaki, der sich irgendwann einfach freundlich und neugierig an meinen Tisch gesetzt hat, und sich als ein Mitarbeiter des Festivals entpuppte. Er macht Einführungen zu Filmen und Regisseursvorstellungen. Seitdem sind wir uns ein paarmal über den Weg gelaufen. Inaki ist ein echter Baske und erzählt immer in den kurzen Gesprächen irgendetwas Hintergründiges, Kontextualisierendes, von dem er glaubt, es könne für mich interessant sein. Morgen wählt er PODEMOS, obwohl er sagt er sei eher konservativ. Aber er will die Opposition stärken. Heute hat er von seiner Einführung für einen baskischen Film und der anschließenden Diskussion erzählt, die natürlich auf Baskisch geführt wurde. In den ersten Reihen: Lauter baskische Funktionäre und Politiker, die im Rudel drin sitzen, nur in baskische Filme gehen, und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen für ihr künstlerisches Engagement. Einer von ihnen habe ihn, den Basken, dann danach an die Seite genommen, um ihm zu sagen, das Baskisch sei ja schon recht gut gewesen. Aber das eine Wort, das habe er nicht richtig ausgesprochen. „Da gibt es eine richtige Sprachpolizei.“
+++
Eine Einführung von Inaki habe ich gesehen. Sie galt dem Franzosen Jean-Gabriel Periot, den man in Deutschland als Dokumentarfilmer kennt. Sein „Une Jeunesse Allemande“ war vor einem Jahr der Geheimfavorit vieler Berlinale-Besucher, als er im Panorama Premiere hatte. Jetzt lief „Lumieres d’ete“ („Lichter des Sommers“), sein erster Spielfilm.
Der beginnt allerdings in den ersten zwanzig Minuten wie ein Dokumentarfilm, obwohl hier offenkundig inszeniert wurde: Eine alte Japanerin wird von einem jungen japanischen Regisseur namens Akihiro interviewt, sie ist eine Zeitzeugin des 6.8.45 in Hiroschima, und erzählt ihr Erleben: Ein heißer Sommer, der Eindruck, der Krieg würde zu seinem Ende kommen, „In the spark of a moment, the world had changed. … But even here, life goes on.“
+++
Danach lernt der Regisseur im Park am Fluß von Hiroshima im Gespräch eine junge Frau kennen. Sie kommen ins Gespräch, die junge Frau ist charmant, aufgeweckt und milde flirtend, zugleich sehr ernsthaft und auf unaufdringliche Weise etwas altmodisch. Sie weiß viel über das Hiroshima unmittelbar nach dem Bombenabwurf der Amerikaner, erzählt Akihiro davon, und man verbringt den Nachmittag zusammen, fährt zur Küste, lernt dort einen alten Fischer und seinen Enkel kennen. Eine sehr bewegliche Kamera folgt den Figuren sehr nahe, während die vier einen Abend mit Grill, Spielen, Musik und Gesprächen verbringen. Wir sehen ein Feuerwerk, das Meer, Landleben, alles, was man so toll findet an Japan, und ab und an kann man sich in einen Naomi-Kawase-Film versetzt fühlen.
Irgendwann wird dann der Schleier über der Pointe gelüftet: Die junge rätselhafte Frau ist ein Geist, der Geist von Michiko, jener Schwester der interviewten Augenzeugin des Anfangs, die den Atomblitz scheinbar unversehrt überstanden hatte, Tage später aber an der Strahlenkrankheit grausam gestorben war. Das alles ist unaufdringlich, beiläufig mit großer Selbstverständlichkeit erzählt. Ein unerwarteter Film von Periot, dem man zwar die Melancholie des Films, nicht aber dessen Sentimentalität zugetraut hätte.
+++
Schließlich eine überaus positive Überraschung: Der japanische Animationsfilm „Kimi No Na Wa“ von Makoto Shinkai. In den ersten Bilder prasselt ein Kometenhagel auf die Erde. Doch es war wohl nur ein Traum: „Once in a while I wake up“ sagt eine Stimme aus dem Off, „und habe das Gefühl, ich hätte etwas verloren.“
Pubertät: Mitsuha, ein junges unglückliches Mädchen mit kleiner Schwester in einer Provinzstadt, sattes Grün, Sonne, Pastellfarben, Wahlkampf für die Bürgermeisterwahlen. Zwei Freundinnen, ihre Väter konkurrieren um Bürgermeisteramt. Der Film legt geschickt falsche Spuren. Den später erinnere ich mich daran, dass ich überlegte, wer wohl die Wahl gewinnt? „Who are you?“ – die Frage wird wiederkehren, und in der Pubertät ist es keine Überraschung, wenn Identitäten ins Wanken geraten.
„Gestern…“ – alle reden mit ihr von Gestern – „Gestern warst Du ganz anders, irgendwie abwesend, gestern war es als littest Du unter Amnesie.“ In dieser Kleinstadt, so heißt es, gäbe es keinen Buchladen, kein Krankenhaus, keine Jobs. „I hate this town! I hate this life! I want to be a boy in Tokio.“ Und dann träumt sie genau das: Ein Junge in Tokio, Taki. Und bald verstehen wir: Das Girl auf dem Land und Junge in Tokio switchen unfreiwillig Identitäten – „Kimi No Na Wa“ ist nur zu Anfang ein scheinbar konventionelles Teenagerpubertätsdrama. Doch bald ist erkennbar, dass es um ganz anderes und viel Anspruchsvolleres geht; Zeitreisen, Identitätstausch, ein Meteoreinschlag und eine Naturkatastrophe.
+++
Zuerst scheinbar humorvolle Teenagerkomödie, in dem Mitsusha Taki Tips fürs Date gibt, obwohl wir wissen, dass nicht nur im „Seishun Eiga“ (Teenie-Liebesgeschichte) beide füreinander bestimmt sind, und es ein Lacher ist, wenn das Date-Girl ihm sagt „You are like a different person today.“
Dann in der zweiten Hälfte einer ziemlich komplizierten Erzählstruktur begibt sich „Kimi No Na Wa“ auf die Spuren großer Vorbilder: der Science-Fiction-Filme „Blade Runner“ und „ghost in the Shell“. Futurismus trifft Melancholie in dieser philosophischen Geschichte, in der zwei Schüler in die Zeit zurückreisen, um Menschenleben zu retten. Existentialistisch, romantisch, nostalgisch japanische Traumfabrik.