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Tag_10 kurz vor Schluss
Ein Resümee nach 40 besuchten Vorführungen, es gab in dieser 70. Ausgabe des Festivals viel Erfreuliches, eine vielschichtige Auswahl an Filmen, von solider, gut gemachter Unterhaltung wie “Madame Hyde“, über Filme, die beunruhigten, wie „Meteorlar“, dokumentarische Filmessays mit wichtigen politischen Inhalten „Did you wonder who fired the gun?“, oder Horrorfilme, die Geburt und Kindheit eines Werwolfs erzählten, „As boas maneiras“ , es gab laute und auch sehr leise, eindringliche Filme, Klamauk und Ernsthaftigkeit, und auf der Piazza vom sympathischen „Chien“ bis zum Blockbuster „Atomic Blond“ eine breite Palette für jeden Geschmack.
Die Vielfalt findet sich in den letzten Jahre auch vermehrt im technischen Bereich, es werden alle Möglichkeiten Film zu drehen genutzt, sowohl 16 und 35mm Filmmaterial, als auch alle Varianten des digitalen Auszeichnen, die Technik wird in Beziehung zum gewünschten künstlerischen Ausdruck gewählt, statt automatisch nach dem neuesten Verfahren zu greifen, das erhöht enorm die Bandbreite der visuellen Qualität und Diversität der Filme.
Organisation und Ablauf könnten noch etwas verbessert werden, an einigen Abenden fragte man sich, was die Bildregie genau anstellt, wenn statt der gerade redenden Personen, irgendetwas oder irgendwer auf der Leinwand zu sehen war, oder ein Filmclip lief, während noch gesprochen wurde. Auch die Ehrungen könnten, wenn vielleicht nicht tatsächlich geprobt, so doch zumindest im Vorfeld ihr Ablauf besprochen werden, so dass es auf der Bühne dann nicht zu, zwar manchmal lustigem, aber Zeit kostenden Durcheinander kommt. Zwischen Giada Marsadri und Carlo Chatrian schien es manchmal „asynchron“ zu laufen, auch da könnte ein wenig „nachgebessert“ werden, zumal sie sonst als Moderationsduo gut rüberkommen. Und zuletzt, die Organisation in einigen der Kinosälen muss dringend überdacht werden, um Unmut und Reibereien bei den Zuschauern zu reduzieren.
Die Leoparden gehen an…

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Die Preisverleihung verlief eher unspektakulär und unglamourös, trotz fleissigen Filmschauens habe ich die goldenen Leoparden, Concorso Internationale „Mrs.Fang“ an Wang Bing und Cinesti del presente für „¾“ von Ilian Metev, nicht gesehen, dazu also keine Einschätzung. Dass mit „Mrs.Fang“ ein Dokumentarfilm den Hauptpreis gewinnt ist auf jeden Fall erfreulich.
Der Gewinnerfilm der Leoparden von Morgen/international an Cristina Hanes für „António e Catarina“ ist eher schwer nachvollziehbar. Auch wenn der portraitierte alte Mann in dem Film, Interessantes, Eigenwilliges bis zu grenzüberschreitend Anzügliches erzählt, ist der Film mit 40 Minuten zu lang, und bietet filmisch zu wenig. Das Gesicht des Alten, mal seitlich, mal frontal, der Blick aus dem Fenster, und nicht viel mehr, das ist zu wenig. Aber auch Festivaljurys sind wohl nicht frei davon interessante Inhalte gesondert zu sehen, statt einen Film in der gesamten, also auch visuellen, Komplexität zu betrachten und zu bewerten.
Der Leopard beste weibliche Hauptrolle an Isabelle Huppert geht natürlich in Ordnung, wie auch nicht, aber es hätte auch einige sehr gute unbekannte Schauspielerinnen gegeben, denen man den Preis gewünscht hätte. Der Regiepreis der Hauptjury, an F.J. Ossang für „9 doigts“ ist eine gute, aber auch spannende Wahl, der Film ist toll, aber eindeutig ein Nischenprodukt. Der Spezialpreis der Jury Cineasti del presente geht an „Milla“ von Valerie Massadian und der Preis für den besten Erstlingsfilm an Ana Urushadze für „Sashishi deda“, damit werden zwei starke junge Regisseurinnen, sehr zu recht gewürdigt, beiden bleibt zu wünschen, dass diese Auszeichnungen ihren Filmen den Weg in die Kinos ebnen kann.

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Der Publikumspreis geht an „The big sick“, auch das erfreulich, die Zuschauer sind vielleicht noch nicht so weit, einen bösen, schrägen Film wie „Laissez bronzer les cadavres“ zu wählen, oder einem Film, in dem in den ersten 10 Minuten ein niedlicher kleiner Hund zu Tode kommt – „Chien“ – ihr Herz und ihre Stimme zu geben – aber das kann ja noch werden.
Alle Preise auf: www.pardo.ch/pardo/pardo-live/today-at-festival/2017/day-11/palmares-2017
Festivalleiter Marco Solari hat sich seinen emotionalen Aufruf an die Freiheit der Kunst, des Festivals und des künstlerischen Direktors des Festivals bis zur Abschlussrede aufgehoben, er vermittelt dieses Anliegen wie gewöhnlich mit Ernsthaftigkeit und Grösse, ohne dabei wie ein Schullehrer zu wirken.
„Gotthard – One Life One Soul“ von Kevin Merz, der letzte Film der Piazza widmet sich einer Band, die man als Tessiner Lokalmatadoren bezeichnen kann. Gotthard zählt zu jener Handvoll Schweizer Bands, die es auch international zu Bekanntheit und Ruhm gebracht haben. Der Dokumentarfilm umfasst die letzten 25 Jahre und erzählt von den Anfängen, dem ersten und dem zweiten Erfolg, ebenso wie vom plötzlichen Abstieg und wieder Aufstieg der Band. Der Film folgt in seine Rhythmus dem Hard Rock, mischt Interviews mit alten und neuen Tourneeaufnahmen, zeigt dass für die Kernmitglieder die Band immer mehr war als eine Rockgruppe, sondern ein Traum, den es zu verwirklichen und zu bewahren galt. Weggefährten, die mittlerweile nicht mehr miteinander reden erscheine gleichberechtigt neben den aktuellen Bandmitglieder und erzählen so auch von persönlichen Fehlern und Verlusten. Bilder, Schnittrhythmus und vor allem eine ausgezeichnete Tonmischung machen die Geschichte auch für Zuschauer spannend, für die Gotthard bisher nur ein Bergpass, ein Tunnel oder das Stauende -in dem sie stehen-war.
Die 71. Ausgabe des Festivals startet am 1.August 2018

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