Eröffnung der Jubiläumsausgabe – 70 Jahre Filmfestival in Locarno
Viel nackte Haut, jede Menge wild wedelnder bunter Fächer und grosser Andrang zum Eröffnungsempfang der Jubiläumsausgabe. Das zweitälteste europäische Filmfestival hat sich viel vorgenommen, neue Kinosäle sind dazugekommen, neue Nebenschauplätze für Diskussionen und – zwanglose – Treffen, langjährige Sponsoren gingen, neue Sponsoren wurden gefunden, der Kunst, der Freiheit und der Freude beides zu verbinden wird weiter gehuldigt.

Marco Solari (c) ch.dériaz
Im Zweifelsfall gewinnt immer die Kunst, so beendet Bundesrat Alain Berset seine Eröffnungsrede, ein schöner Satz von einem Politiker. Festivalleiter Marco Solari nimmt sich auf der Piazza Grande sogar Goethe zur Hilfe, nicht das Verharren im schönen Augenblick, sondern das Streben nach Mehr, nach Besserem sei das Ziel. Die kommenden 12 Tag werden zeigen was die Neuerungen und das Programm bringen.
Locarno das sind immer auch Kontraste, unabsichtiges, aber auch irgendwie typisches Beispiel: auf dem roten Teppich am Eröffnungsabend, der künstlerische Leiter Carlo Chatrian in Anzug und schwarzer Fliege neben Mathieu Amalric, Darsteller des Eröffnungsfilms „ Demain et tous les autres jours“ in knitterigem, offenem Hemd und kaputten Schuhen. Auf der Bühne die Stimmung gutgelaunt und ausgelassen, obwohl die Regisseurin Noémie Lvovsky so aufgeregt ist, dass man ihr Mut zurufen möchte.
Einen märchenhaften, versponnenen Film hat sie geschrieben, inszeniert und eine der Hauptrollen übernommen. Mit viel Witz und in weiten Strecken sehr originell erzählt sie eine ungewöhnliche Mutter – Tochter Beziehung, in der der die kleine Tochter, wunderbar und stark gespielt von Luce Rodriguez, die Verantwortung für sich und ihre Mutter tragen muss, und sich in verschiedenste Phantasiewelten flüchtet, um diese Last überhaupt aushalten zu können. Sehr leicht und fröhlich bleibt der Film trotz aller gravierenden Probleme, und gäbe es am Schluss nicht eine Art Erklärszene wäre er perfekt.
Tag_1 Was ist Freiheit?

(c) ch.dériaz
Gleich der erste Film führt in einen der neuen Kinosäle, schön ist er, bequem, breite Armlehnen, das fängt gut an. Und „Sashishi deda“ von Ana Urushadze erweist sich als sehr gute Wahl den Tag zu beginnen. Eine Frau zwischen Alltag als Mutter, Haus-und Ehefrau und obsessiver Schriftstellerin. Getrieben wirkt sie, verhuscht, fahl, genau wie das Betongrau ihres Häuserblocks, oder das erloschene Blau der Tapeten, sie scheint nur für ihr Buch zu leben, ein Buch, das keiner ausser einem befreundeten Schreibwarenhändler bisher gelesen hat. Als sie den Text ihrer Familie vorzulesen beginnt, wendet sich das Verständnis für ihr Schreiben in Ablehnung, das Manuskript wird verbrannt, sie wird beschimpft, der billigen Pornographie bezichtigt, und flüchtet sich schliesslich in einen Raum im Lager der Schreibwarenhandlung. Das puffrote Ambiente des Raums kontrastiert mit der grauen Welt, die sich als Wirklichkeit ausgibt. Dass ihr Text mehr als künstlerische Überhöhung ihres Lebens ist, wird im Verlauf des Films immer deutlicher und findet sein furioses Ende in einem langen Monolog ihres Vaters, der den Text zunächst lobt und sich dann in einem Stakkato aus gekränkter Eitelkeit – kommt er doch nicht schillernd genug vor – bösen Vorwürfen, Anschuldigungen und Gemeinheiten in die Höhe schraubt. Ein Monolog, der die Tochter aus dem Grau entlässt, sie sichtlich wachsen lässt, und sie, je nach Perspektive, befreit oder zu der blutsaugenden Rächerin werden lässt, die die anderen in ihr sehen (wollen).
Der frühe Nachmittag gehört den Leoparden von Morgen. „Nikok nema“ von Jelena Gavrilović, ist sehr schön gedreht, aber die Geschichte ist nicht wirklich zu fassen, da hilft auch der Katalogtext nicht wirklich weiter, man bleibt ratlos, trotz der Bildkraft. „Habour“ von Stefanie Kolk, erzählt von zwei illegal arbeitenden Männern am Hafen von Rotterdam, ihre ruhige Arbeitsroutine wird gestört, als direkt vor ihnen im Wasser eine Leiche auftaucht, natürlich könne sie nicht einfach die Polizei rufen. Mit sehr wenigen Mitteln erzählt dieser Film sehr eindrücklich von prekären Lebenssituationen, und der damit verbunden Einsamkeit und Hilflosigkeit. Von einsamem Leben handelt auch „Vypusk ’97“ von Pavlo Ostrikov, die Geschichte eines Wiedersehen 2o Jahre nach dem Schulabschluss, fängt recht harmlos an, und mutiert zu einer sehr bösen Groteske. Sehr schön, sehr lustig, sehr gelungen. Mit feinem ethnologischem Blick und viel Rhythmus zeigt „Palenque“ von Sebastián Pinzón Silva das erste Dorf des amerikanischen Kontinents, das sich von der kolonialen Herrschaft unabhängig gemacht hat. Eine archaische, vom Rhythmus der afrikanischen Trommeln begleiteten Gemeinschaft, in der der Stolz auf die Freiheit hochgehalten und gelebt wird. Spannend und schön.
Die Warteschlange vor dem Fevi bewegt sich langsam und zäh vorwärts, aber am Ende findet doch jeder Platz um „Freiheit“ von Jan Speckenbach zu sehen. Eine Frau treibt frei aber auch irgendwie orientierungslos zunächst durch Wien, verschwindet fluchtartig von dort und landet in Bratislava. Zur selben Zeit versucht ein Mann in Berlin sein Leben und das seiner Kinder so normal wie möglich weiter zu leben. Zwei Welten, die früher zusammen gehörten, werden parallel erzählt, und Stück für Stückt entdeckt man, dass die Frau die Familie verlassen hat. Sie scheint zu suchen, nach der titelgebenden Freiheit, oder nach einem frischen Modell sich (aus) zu leben? Spannung entsteht aus den Gegensätzen der Welten, in Berlin der gutsituierte Anwalt, und in Bratislava das Zimmermädchen ohne Papiere, ohne Bindungen, und eigentlich fragt man sich gar nicht warum die Frau diesen Weg gewählt hat, man folgt ihr bereitwillig oder auch neugierig; Flucht in die Freiheit oder Auszeit? Doch dann liefert der Film in einer Rückblickszene die letzten Tage vor ihrem Verschwinden, und das ist dann schade, hätte man nicht zu wissen brauchen, trägt zu ihrer Entscheidungsfindung nicht wirklich bei, offener wäre es auch hier schöner gewesen.

Nastassja Kinski (c) ch.dériaz
Auch in diesem Jahr werden diverse Ehren- und Sonderleoparden vergeben, die erste auf der Bühne der Piazza Grande: Nastassja Kinski. Hübsch, ein bisschen überdreht und strahlend schwebt sie auf die Bühne, küsst ihren Leoparden, und ist nach einer kurzen Ansprache auf Italienisch auch schon wieder weggeschwebt. Nach ihr kommt die wunderbare Fanny Ardant auf die Bühne, Hauptdarstellerin des Abendfilms „Lola Pater“ von Nadir Moknèche, auch von ihr einiges Sätze auf Italienisch, wer dieser Tage in Locarno gar kein Italienisch versteht ist geliefert.
„Lola Pater“ erzählt von einem Sohn, der nach 25 Jahren seinen Vater erstmals wiedersieht, bloss dass sein Vater mittlerweile eine Frau ist, Komplikationen und Reibereien sind also vorprogrammiert. Ablehnung, Schock, Unverständnis, Erklärungen, die dann doch nicht standhalten, Streit, Suff und am Ende eine Form, die ein sinnvolles Miteinander möglich erscheinen lässt, alles wunderbar gespielt und schön ins Bild gesetzt, vielleicht in der Mitte etwas langatmig, aber durchaus unterhaltsam. Damit kann man beruhigt in die Nacht gehen. Freiheit ist eben immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.