Locarno_2017

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Tag_2  Alt? Was heisst das schon?

Verão Danado“ von Pedro Cabeleira verspricht der ideale Film zum hochsommerlich heissen Locarno Wetter zu sein, von heissen Sommertagen, die träge aber auch pulsierend verlebt werden, Lissabon als Kulisse, auch die 128 Minuten klingen zunächst nicht so abschreckend; viele Zuschauer hatten wohl ähnliche Gedanken, der Saal ist um 11 Uhr morgens voll. Was dann allerdings folgt sind inhaltlich und technisch uninteressante Bilder, unendlich langweilige, dahergeschwafelte Dialoge, und von Hitze und Pulsieren keine Spur, selbst Lissabon als Hintergrund macht eine schlechte Figur, da viel Szenen in Innenräumen oder auf Hausdächern stattfinden. Im Saal wird es zusehends unruhiger, Zuschauer verlassen das Kino, nach etwas über einer Stunde ist es dann auch mir zu blöd und ich verschwinde in die real existierende, schwirrende Hitze Locarnos.

Die Leoparden von Morgen fangen auf jeden Fall schon vielversprechend an, „59 secondes“ von Mauro Carraro ist ein wunderschön gezeichneter Animationsfilm. Vor dem Hintergrund der schweren Erbeben in Norditalien 1976 erzählt er in kurzen, warmherzigen Szenen die Liebesgeschichte seiner Eltern, ein Liebesgedicht mit viel Humor. Nicht so sehr Liebe, aber das Balzverhalten, nicht nur, von Seevögeln gibt es in „Parades“ von Sarah Arnold. Eine junge Frau sucht im Naturschutzgebiet nach einem mythischen Karpfen und gerät dabei mit dem jungen Parkaufseher in Konflikt, kurzerhand entführt sie ihn auf eine der Inseln mitten im See des Parks, bei Menschentieren gehört manchmal auch das Beschimpfen zur Balz, und am Ende findet sie sogar den dicken Karpfen, der den Lauf der Dinge vorhersagen kann. Schöne Idee, schön umgesetzt, alles sehr kurzweilig. Der Film „und alles fällt“ von Nadine Schwitter will mehr als er einlösen kann, Haltung zeigen und Verantwortung für sein Handeln übernehmen ist die Grundidee. Dass die beiden befreundeten Paare Einfluss aufeinander haben, und Missgeschicke des Einen bei den Anderen zu groben Streitereien führen wird zwar durchaus gekonnt erzählt, aber dass irgendwer Verantwortung übernimmt für sein Tun, ist im Eifer der Inszenierung verloren gegangen.

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Mit grosser Vorfreude geht es dann ins vollbesetzte Fevi zu „Lucky“ von John Carroll Lynch. Harry Dean Stanton dabei zuzuschauen wie er als grummelnder Alter die Leinwand beherrscht ist einfach zu schön. Die Geschichte um den alten Griesgram wird über seine täglichen Routinen erzählt, bei jeder Wiederholung aus etwas anderen Perspektiven und Kamerablicken, bis zu dem Tag wo Lucky einfach umkippt. Ab dem Zeitpunkt ändern sich die Routinen minimal, werden dem steigenden Griesgrämigkeitspegel angepasst, um dann langsam und fast umbemerkt aus dem Kreis auszubrechen und zu einem grossartig lächelnden Harry Dean Stenton inmitten einer Kakteenwüste zu gelangen. Für diesen schelmischen Film über Alter und Altersweisheit, die man auch einfach Frechheit nennen kann, gab es tosenden Beifall. Und so geht es gut gelaunt in den nächsten Film: „Distant constellation“ von Shevaun Mizrahi. Der eigenwillige Dokumentarfilm portraitiert einige Bewohner eines Istanbuler Altersheims, das wäre zunächst mal nicht so wahnsinnig spannend, aber auf Grund der so neugierig wie sensiblen Kamera und der recht speziellen Protagonisten, entsteht ein wunderbarer Film, der sehr viel von Respekt aber auch von Vergänglichkeit und Veränderung erzählt.

Auf der Piazza Grande bekommt an diesem Abend Adrian Brody vor über 6000 Besuchern einen Ehrenleoparden und der erste Film des Abends verspricht abkühlende Bilder. Vielleicht ist das ja nur böse Voreingenommenheit, aber Bergfilme …..Naja!

Drei Zinnen“ von Jan Zabeil bietet dem Genre keine Ehrenrettung, schöne Kulisse, gute Kamera, gute Darsteller, aber das war dann auch schon alles. Die Geschichte der Patchworkfamilie auf Urlaub in den Bergen ist unglaubwürdig, und was noch schwerer wiegt sie ist schlicht langweilig, und selbst als sich das „Drama“ zuspitzt kommt keine Spannung auf, eigentlich wird der Film da wahlweise ärgerlich oder lächerlich. Schade irgendwie. Aber der Abend wird dann doch noch gerettet, um Mitternacht beginnt „Laissez bronzer les cadvres“ von Hélène Cattet und Bruno Forzani. Ein lautes, buntes Feuerwerk aus tiefen Verbeugungen vor, Referenzen an und Zitaten aus Trash, Pulp und Italowestern mit einer Prise Seitenhiebe auf Aktionskunst der 60ger Jahre, laut und witzig und extrem gut gemacht. So endet ein langer Tag der zäh anfing dann doch noch gut.

 

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Tag_3 Männerwelten

 

Mit dem dänischen Film „Vinterbrødre“ von Hlynur Pálmason taucht man ein in eine kalte, karge und raue (Männer)Welt, ein verlorener Ort in dem ausser der Fabrik, dem Untertageabbau und den Wohncontainern nichts als winterlicher Wald und Weite zu finden ist. Wortlosigkeit und Härte prägen das Miteinander der Arbeiter, nur einer von zwei Brüdern treibt in dieser Welt dumme Bubenspiele, Wettpinkeln, Karabiner Handhaben, illegal Schnapsbrennen und die einzige Frau im Areal, die mit seinem Bruder schläft, anhimmeln, inklusive Höschenklau. Diese Konstellation aus zu viel Leere und zu viel Testosteron gepaart mit jungendlicher Dummheit ergeben eine hochexplosive Mischung. Wunderbare Bilder findet der Film immer wieder, nicht zuletzt Untertage, wo einzig die Stirnlampen Licht bringen, und so ein Bilderblitze in infernalem Lärm baden, während unten Schwarz dominiert, verliert man sich oben in hässlichem Grau, trübsinniger geht es kaum mehr, und doch ist der Film ungeheuer faszinierend.

Die Leoparden von Morgen bieten dafür dann eher magere Kost einzig „Das satanische Dickicht – DREI“ von Willy Hans ist erwähnenswert. Surreale Ereignisse auf einem deutschen Campingplatz, schön in schwarz-weiss und auf Film gedreht. Ein Film wie ein langes Aus-und wieder Einatmen, Menschen, Dinge, Tiere driften auseinander, und finden wieder an ihren Platz, einatmen, ausatmen, und man meint ein sommerliches Flirren und Summen zu vernehmen.

Ein sehr beunruhigender Film ist „Meteorlar“ von Gürcan Keltek. Eine Welt am Abgrund, erzählt in bizarren, teils fast abstrakten schwarz-weiss Bildern, die Jagd auf Steinböcke, Soldaten an der Grenze, Menschen in eine Dorf, die auf die Strasse gehen, es knallt immer mehr, nicht mehr nur Übung, sondern Attentate und Ausnahmenzustand in der Türkei, Menschen, deren Häuser zerschossen werden, Gewalt und Gegengewalt, in der Montage wirkt alles noch viel sinnloser als sonst, und dann noch ein Meteoritenschauer über der Südosttürkei, verwoben und unterlegt von einer Frauenstimme, die das Warum in Frage stellt. Beunruhigend, nicht immer gut, aber sehr eindrücklich.

Auf der Piazza Grande einen Ehrenleoparden für den französischen Regisseur und Schauspieler Mathieu Kassovitz, der auch im Abendfilm, „Sparring“ von Samuel Jouy, die Hauptrolle spielt. Boxerfilme bilden eine Art Gegensatz zu Bergfilmen, auch her weiss man eigentlich was man bekommen wird, aber die Chancen sich dabei gut zu unterhalten sind deutlich grösser, und wenn die Klischees nicht mit dickem rosa Zuckerguss überzogen werden, dann macht so ein Boxerfilm einfach Spass. Das funktioniert auch bei „Sparring“ ganz wunderbar, der alternde Boxer, der von sich sagt seine Spezialität sei es einstecken zu können, der sich aus Geldmangel entscheidet einen Monat lang der Sparringspartner eines Europameisters zu werden. Coole Boxsequenzen, ein bisschen Machogebalze und die junge Tochter als beruhigender, aber auch lenkender Gegenpol und ein leises, nicht gezuckertes Happy End.