Locarno_2017

 

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Tag_4 Kraft und Zärtlichkeit

Meistens ist man als Zuschauer bei der dritten und letzten Vorführung „alleine“, also ohne Moderation und ohne Regie und Team, nicht so bei Denis Côtés neuem Film „Ta peau si lisse“, der Meister der subtil schrägen Filme kündigt seinen Film selber an. In dem Dokumentarfilm geht es um Bodybuilder, langsam, analytisch und fast streichelnd, tastet die Kamera die Muskeln, die Hautfalten, die Gesichter der Protagonisten ab. Diese Männer, deren Leben sich an erster Stelle um den Aufbau und Erhalt ihrer Muskelmassen dreht, sind keine tumben Fleischberge, je länger der Zuschauer sie auf der Leinwand beobachtet, umso klarer wird, nicht nur ihre Haut ist zart, diese riesigen Muskelberge umgeben zarte Wesen. Besonders berührend sind Szenen, in denen die Protagonisten mit ihren Kindern, ihren Haustieren, ihren Familien interagieren. Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass dieser Film alles erzählt ohne dabei einen Kommentartext zu brauchen.

In Locarno gilt es Prioritäten zu setzen, nicht nur bei der Auswahl der Filme, sondern auch, ob man lieber eine kleine Kaffeepause macht, oder sich eine Stunde vor Filmbeginn in die Warteschlange stellt, letzteres hat den Vorteil, dass man den Platz im Saal hat, an dem man – einigermassen – gut sitzt, allerdings mit Koffeinmangel. Die Warteschlange für „Madame Hyde“ von Serge Bozon ist erwartungsgemäss lang, immerhin spielt Isabelle Huppert die Hauptrolle. Der Film basiert lose auf Dr.Jekyll and Mister Hyde, Huppert, als überforderte, aber auch schlechte Physiklehrerin Madame Géquil, der die Schüler der Vorortschule auf der Nase rumtanzen, sie brüllt und kommt trotzdem nicht weiter, bis eines Tages in ihrem Physiklabor, in bester Dr. Frankensteinmanier, beim Hantieren mit technischen Apparaturen der Blitz durch die Geräte und in sie fährt; Die Geburt von Madame Hyde. Der Film ist allerdings in Folge weit weniger schräg und abgefahren, als die Bilder hoffen liessen, sondern eher, der Vorlage geschuldet, moralisch und belehrend. Die Lehrerin gewinnt mit der Verwandlung an Stärke und Selbstbewusstsein, meistert ihre Schüler, verwandelt sie sogar in Musterbeispiele gelungener Pädagogik, muss sich aber auch der immer stärker werdenden zerstörerischen Kraft ihre zweiten Natur stellen, und entscheiden, ob sie diese zulässt, oder, zu Gunsten der Moral, Madame Hyde verrät und aufgibt.

Milla“ von Valerie Massadian ist ein ganz langsamer, ruhiger Film, dessen Kraft sich ebenso langsam erschliesst, dafür aber dann um so eindrücklicher. Die Bildern, oft mittelweiten Totalen, graphisch schön komponiert, bilden eine Art Bühne für die diversen Stadien, in denen sich die junge Milla befindet, von der verliebt und bei jeder Gelegenheit kichernden, unbekümmerten jungen Frau, zur etwas unsicheren Schwangeren, die ihren Freund verliert, bis zur Mutter eines kleinen Jungen, die gelernt hat sich um ihr Leben zu kümmern und Verantworten zu tragen ohne dabei an Lebensfreude zu verlieren. Und obwohl der Film etwas über 2 Stunden lang ist, schaut man fasziniert dieser Entwicklung zu. Taucht in die Bilder ein, schweift auch mal in Gedanken ab, und kommt ganz bequem wieder zu der Filmfigur und ihrem Leben zurück.

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Auf der Piazza keine Ehrung an diesem Abend, „Amori che non sanno stare al mondo“ von Francesca Comencini verspricht eine romantische Komödie mit Ironie zu sein, eine nicht wirklich nachvollziehbare Beschreibung des Films. Ein Paar, Er unausstehlicher, blasierter, alternder Literaturprofessor, Sie hektisch nervende Literaturprofessorin – etwas jünger – haben sich nach 7 Jahren getrennt, und besonders Sie scheint das nicht so recht akzeptieren zu wollen. Es gibt ping-pongschnelle Streitereien, mal geistreich, mal einfach albern, Rückblicke auf die Anfänge und die gemeinsame Zeit, wo man sich immer fragt warum die beiden überhaupt ein Paar waren, und am Schluss die Erkenntnis auf beiden Seiten, dass nicht jede Liebe gelebt werden kann. Nein, weder Komödie noch romantisch und schon gar nicht ironisch.

 

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Tag_5 Familienangelegenheiten

Ein Palästinensischer Film gleich um 11 Uhr morgens, und das kleinste Festivalkino, ist mit 270 Zuschauern restlos ausverkauft. „Wajib“ von Annemarie Jacir erzählt mit sehr schlichten Szenen und pointierten Dialogen nicht nur eine Familiengeschichte, sondern in kleinen, gut platzierten Nebensätzen auch vom Konflikt im Nahen Osten. Die meiste Zeit verbringen Vater und Sohn in einem alten Volvo in den Strassen Nazareths, auf dem Weg zu Nachbarn und Freunden, um Hochzeitseinladungen persönlich abzuliefern. Langsam wechselt Geplänkel zwischen Vater und Sohn über Lebensmodelle zu konkreteren Kränkungen und Missverständnissen aus der Vergangenheit, wobei die kurzen Gespräche mit Freunden und Nachbarn der Auseinandersetzung immer wieder neue Drehungen und Facetten geben, aber auch immer wieder als beruhigender Faktor fungieren. Eine absolut sympathische Geschichte vom normalen Irrsinn im Nahen Osten.

Die Leoparden von Morgen warten mit zwei Familiengeschichten auf, einer sehr misslungenen und einer, die so gut ist, dass man ziemlich sicher sein kann da einen Preisträgerfilm gesehen zu haben. „Les histoires vraies“ von Lucien Monot ist der missglückte Versuch ein locker-leichtes Porträt seines Vater zu machen, die 16mm Bilder sind grösstenteils unscharf, wackelig, uninteressant, die nachgestellten Szenen aus dem leben des Vaters – mit dem Vater selbst als Darsteller – sind hölzern und uninteressant, alles in Allem, 22 Minuten, die sich in die Länge ziehen. „Rewind Forward“ von Justin Stoneham dagegen ist ein wirklich bewegender und schmerzhaft ehrlicher, persönlicher Film. Stoneham besucht seine 25 Jahre vorher durch einen Hirnschlag geschädigte Mutter nach 12 Jahren zum ersten Mal im Pflegeheim, diese Begegnungen werden immer wieder von VHS Filmen der Familie vor dem Schlaganfall unterbrochen. Es entsteht ein sehr komplexes Bild vom Verlust, den der 4 Jährige durch diesen Unfall erlitten hat, aber auch vom schlechten Gewissen, dass ihn jetzt als Erwachsenen prägt, ihn aber auch motiviert hinzuschauen und eine, wenn auch späte, liebevolle neue Beziehung zur Mutter zu etablieren. Weiter im Programm zwei wunderschöne Animationsfilme, einmal „Kuckuck“ von Aline Höchli, der mit schönen, schlichten Zeichnungen zeigt, dass wir alle den einen oder anderen sprichwörtlichen oder metaphorischen Vogel haben, sehr witzig. Der andere „La femme canon“ von Albertine Zullo und David Toutevoix ist ein Stop-Motion Film, von einem Schaustellerpaar, das sich verliert und wiederfindet, hübsch.

Ohne Pause geht es in die nächste Warteschlange, „Goliath“ von Dominik Locher ist auch ziemlich ausverkauft. Ein junges Paar wird am Tag als sie sich entscheiden ihr ungeplantes Kind zu behalten von einem Typen verprügelt, eine albernen Situation ist eskaliert, und beide landen mit blutigen Nasen im Krankenhaus. Was dann folgt ist eine massive Fehlentscheidung des jungen Mannes. Um sich und seine Freundin künftig verteidigen zu können, pumpt er sich mit Hilfe von Ananbolika und Kraftraining auf. Die daraus folgenden körperlichen und charakterlichen Veränderungen, belasten die Beziehung. Eigentlich ist das etwas zu wenig Geschichte für 90 Minuten, die Handlung stagniert und wirkt manchmal fast wie ein Lehrfilm zur Drogenprävention.

Der Ehrenleopard für Todd Haynes eröffnet den Abend, und dann folgt der bislang beste Film auf der Piazza Grande, „Chien“ von Samuel Benchetrit. Jacques, ein Familienvater, wird von seiner Frau unter fadenscheinigen Gründen aus Haus und Bett geworfen, verliert in Folge auch seinen Job, und selbst der kleine Hund, den er kauft, wird fast sofort nach dem Kauf vom Bus überfahren. Aber so böse und düster die Situation auch ist, auf Jacques Gesicht bleibt immer ein knopfaugiges Lächeln, die Welt scheint für ihn ein freundlicher Ort zu bleiben. Auch als der brutal-sadistische Hundehändler ihn bei sich aufnimmt wie man einen streunenden Hund aufnimmt, und ihn auch so behandelt, auf dem Boden schlafen inklusive, bleibt er freundlich, hündisch-devot möchte man sagen. Bis er, als es dann doch zu viel wird, in ebendieser Hundeart doch reagiert, war der Film bis dahin schon sehr schräg und immer wieder auch etwas surreal, driftet er danach völlig ins Surreale ab und findet so ein grossartiges Ende, das man auf keinen Fall verraten darf. Schön dass es solche Filme gibt, die Geschichten abseits der Trampelpfade erzählen, die sich im Kopf des Zuschauers auch noch länger ausbreiten und weiter- oder umerzählen lassen.

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