Locarno_2017

 

DSC07822

(c) ch.dériaz

Tag_8 Dunkelbunt

Ein dunkler Schwarz-Weiss Film gleich nach dem Frühstück. „9 doigts“ von F.J.Ossang fängt an wie ein Gangsterfilm der 40ger Jahre, mysteriöse Geschichte, schräge Bildausschnitte, die mehr verbergen als preisgeben, Regen, eine Zigarette, ein Mann rennt und wird von einer Bande Ganoven gefangengenommen. Dann wechseln Stimmung, Stil und Schauplatz, der Rest des Films spielt auf einem Schiff mitten im Ozean, wohin die Reise geht ist ebenso unklar, wie die Beziehung unter den Gangstern, die Allianzen wechseln, das Schiff taumelt trunken keinem Ziel entgegen, während die Gangster Unverständliches philosophieren. Und über allem die Frage, wo ist das Polonium, wer ist der Auftraggeber, und wer ist überhaupt der titelgebende, unauffindbare „9Finger“. Der Film bietet keine Lösung, keine Erklärung, ist aber dafür von hypnotischer Schönheit.

Die letzte Vorstellung der Leoparden von Morgen bietet nur wenig Spannendes, „Crossing River“ von HAN Yumeng folgt in schönen Bildern einem jungen Bauarbeiter einen Tag lang, von Schiffsanleger zur Arbeit, in die Pause, wo er still ein Mädchen anhimmelt, das ihn ebenso anhimmelt, wieder in den Rohbau, und am Abend zurück aufs Schiff. Interessant ist der Einsatz von beredter Wortlosigkeit und der Leere selbst an belebten Orten, ein kleiner, schöner Film. In „Haine negre“ von Octav Chelaru wird viel Gesprochen, und doch herrscht grosse Sprachlosigkeit zwischen einem orthodoxen Priester und seinem Sohn, und von der Wahrhaftigkeit von der er predigt, bleibt nicht viel übrig als er den Sohn nach einem Diebstahl bei der Polizei abholt; er sollte es besser wissen.

DSC07834

(c) ch.dériaz

Weiter ins neue Palacinema, mittlerweile wird versucht die langen Schlangen, die sich bereits eine Stunde vor Vorstellungsbeginn bilden zu bändigen, in dem man zumindest die Wartenden der beiden Säle trennt, optimal ist die Lösung immer noch nicht, aber wenigstens kann der Film pünktlich anfangen. „Abschied von den Eltern“ von Astrid Johanna Ofner enttäuscht. Hauptsächlich weil die Qualität der Filmbilder oft sehr unschön ist, pixelig, schwammig, dem Schnitt fehlt die Ruhe, die die Bilder suggerieren, und die Tonbearbeitung klingt unfertig. Die Idee sich der autobiographischen Erzählung Peter Weiss‘ zu nähern, indem ein Darsteller zu den Schauplätzen der Geschichte führt, in ihr wandelt, sie belebt ist im Grunde gut, aber so wie sich der Film dann zeigt ist das ganze eher lähmend. Ob einem die Art wie die Texte meistens im Off, manchmal aber auch im On gelesen werden, gefällt ist dann nur noch Geschmackssache.

Trotz kühler Temperaturen, immerhin ist es wieder trocken, geht es auf die Piazza. Die ersten Preise und eine Ehrung gibt es vor dem Film. Mit 30.000 Euro dotiert ist der neue Eurimages Audentia Award, der an Regisseurinnen oder Regisseure geht, die mit ihren Filmen die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Filmindustrie weiterbringen. Der Preis geht an die Regisseurin von „Milla„ Valerie Massadian. Einen Ehrenleoparden gibt es noch für den Spanischen Kameramann José Luis Alcaine.

The big sick“ von Michael Showalter gehört in die Gattung romantische Komödie, und ist trotzdem erträglich und witzig! Vor allem wohl weil der Fokus der Geschichte nicht ausschliesslich auf der Liebesgeschichte zwischen einem Standup-Komiker mit Pakistanischen Wurzeln und seiner Amerikanischen Psychologie studierenden Freundin, und den unausweichlichen kulturellen Querellen, liegt, sonder alle Beziehungen zwischen den Figuren mit Reibungen zu kämpfen haben. Weil keine Beziehung perfekt funktioniert, und weil der Film zusätzlich wunderbare schräge Nebenfiguren hat, die nicht nur als „Kulisse“ dienen. Und das Beste ist, das Ende bietet zwar Positive Aussichten, aber keine schmachtenden Bekenntnisse und heisse Schwüre. Lockere Unterhaltung mit einem Schuss Gesellschaftskritik.

 

Tag_9 die letzten Filme

DSC_0691

(c) ch.dériaz

Unter dem Titel Panorama Suisse werden neue Schweizer Produktionen gezeigt, mit immer sehr grossem Zuschauerinteresse, so ist es auch nicht verwunderlich, dass schon früh eine grosse Menge Menschen vor dem Fevi steht um „Unerhört Jenisch“ von Karoline Arn und Martina Rieder zu sehen. Der Film beleuchtet ein gerne verdrängtes Thema in der Schweiz, nämlich das der Marginalisierung der Jenischen, die mal als Fahrende, mal als Schausteller bezeichneten und vor allem in Graubünden ansässig sind. Vorrangig geht es im Film um die vielen aktiven Musikerfamilien, die einen jenischen Hintergrund haben, vom international bekannten Stephan Eicher über diverse Volksmusikgruppen, parallel geht es aber auch um das unfassbare Unrecht, das den Familien bis in die Mitte der 70ger Jahre geschehen ist, indem man sie nicht nur an den Rand der Gesellschaft drängte, sondern ihnen auch immer wieder Kinder weggenommen wurden, um sie „umzuerziehen“. Es geht viel um Selbstverständnis, verwurzelte Ängste, und wie sich (Musik)Traditionen gegenseitige beeinflussen. So beschämend die politisch-gesellschaftlichen Verfehlungen sind, der Film bleibt in seiner Grundstimmung positiv.Das Publikum reagierte begeistert.

Gli asteroidi“ von Germano Maccioni kombiniert Raub und Diebstahl mit einer Geschichte von Freundschaft und Erwachsenwerden. Drei Jungs, einer mit kleinem Job, einer kurz vor dem Schulabschluss und der Dritte ein versponnener Träumer, jeder hadert mit sich und seinem Schicksal, zusammen mit dem viel älteren Pizzeriabesitzer begehen sie Raubzüge in Kirchen, um die geklauten Kultgegenstände zu verkaufen. Jeder scheint sich aus dieser kriminellen Aktivität einen Ausweg aus der Öde des Alltags zu erhoffen, dass das nicht gut gehen kann, ist spätestens klar, als der Alte mit einer Waffe aufkreuzt. Die gebündelte Dummheit der Jungs macht einen im Zuschauerraum unruhig, man möchte ihnen dauernd zurufen „mach das nicht…Achtung!“ Ach ja, und die Asteroiden, von denen der Träumer die ganze Zeit behaupte, sie würden direkt neben dem Radioteleskop des Ortes auf die Erde stürzen und sie zerstören, sind dann doch eher nur Sternschnuppen gewesen, aber da ist dann schon vieles nicht mehr gut, und die Übriggebliebenen sind ein Stück erwachsen geworden.

Im allerletzte Film des Hauptwettbewerbs „En el sétimo día“ von Jim McKay geht es um um Prioritäten, Fussball und Arbeit. Eine Gruppe illegal in Brooklyn arbeitender Mexikanern, alle begeisterte Fussballer, kommen in einem lokalen Turnier ins Finale, bloss dass ihr wichtigster Spieler an dem Tag eigentlich nicht wird spielen können, weil er arbeiten muss. Die Geschichte ist die meiste Zeit sehr rasant erzählt, schon alleine weil einige der Mexikaner als Fahrradboten für ein Restaurant arbeiten, wilde Fahrten durch Brooklyn, wechseln sich mit hektischen Mittagspausen, wuseligem Treiben im Restaurant und lauten Abenden in der völlig überfüllten Wohnung der Männer, ab. An manchen Stellen macht der Film eine Pause in der Hektik, nimmt sich Zeit für längere Dialoge, die nicht immer spannend sind, oder dem Fortgang der Geschichte dienen. Wunderbar ist das Finale, als Parallelmontage von Fussballturnier und Arbeit, und eine originelle Lösung wie der fehlende Mann dann doch noch, zumindest zeitweise, auf den Platz kommen kann, um das Team in Führung zu schiessen, gibt es auch. Allerdings auch diesmal ohne komplettes Happy End, Prioritäten haben manchmal einen Preis.

DSC07829

(c) ch.dériaz

Der niedrigen Temperatur geschuldet geht es statt auf die Piazza ins „Ausweichquartier“ Fevi um „Atomic Blonde“ von David Leitch zu sehen. Alle die mit Comic Verfilmungen nichts anzufangen wissen, denen laute 80ger Jahre Musik missfällt, die sehr blutige Prügeleien, spritzendes Blut, eingeschlagene Schädel und ein bisschen lesbischen Sex nicht mögen, sollten dem Film fern bleiben, für alle anderen: ja bitte! Eine dreifach gedrehte Agentengeschichte, eine Superagentin, gegen die 007 einpacken kann, und Berlin kurz vor dem Mauerfall. Was für ein Spektakel.

 

 

Jetzt heisst es warten auf die Entscheidungen der Jurys, die, wie meistens, unvorhersehbar sind.