Solothurn_2018_Tag 1

Filme auch für Frühaufsteher

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(c) ch.dériaz

 

Allem Anschein nach wurde im vergangen Jahr viel produziert in der Schweiz, das Programm ist dicht, und die ersten Vorführungen beginnen zwischen 9:15 und 9:30. Dem Besucherandrang tut das keinen Abbruch, das Kino ist voll, festivaltypisches Gedrängel am Eingang inklusive, und schon die erste Vorstellung beginnt mit Verspätung.

Im Dokumentarfilm „Willkommen in der Schweiz“ von Sabine Gisiger gelingt der Spagat einen unterhaltsamen, schafsinnigen und über die Grenzen der Schweiz gültigen politischen Film zum Thema Abschottung und Zuwanderung zu machen. Dabei bleibt der Film sachlich, lässt alle Seiten zu Wort kommen, montiert die, nur zu bekannten, Standpunkte der SVP Politiker und Wähler zum Beispiel mit friedlich im Frühnebel grasenden Kühen in einem verschlafenen Dorf, und findet immer wieder ruhige Bilder, deren Symbolhaftigkeit oft erst durch den Kontrast zum Gesagten entstehen. Gesang, zweier multiethnischen Chöre und historisches Nachrichtenmaterial unterbricht und strukturiert, und zeigt ganz nebenbei, wie Einheit aussehen kann, und wie alt und immer wiederkehrend mit der Angst vor Fremden und Fremdem gespielt wurde und wird.

Eine Programmschiene widmet sich Nachwuchstalenten, und zumindest die heutige Auswahl war vielversprechend. Den vier Filmen gemeinsam war die Auseinandersetzung mit Einsamkeit, ob in der Landschaft, in der Gruppe oder in sich selber.

Zwei Aussenseiter, die kurzzeitig zueinander finden in „Le valet noir“ von Laura Mure-Ravaud. Mit spärlichen Dialogen und reduzierten Gesten wird die mögliche Annäherung einer sehr androgynen Croupière und einem Taschendieb erzählt, liebevoll, zart trotz eher widriger Umgebung. Raue winterliche Landschaft, ein alter Bauernhof, ein rübezahlhafter Bauer, das sind die Komponenten in „La saison du silence“ von Tizian Büchi. Was er daraus macht mutet zunächst fast dokumentarisch an, und verschiebt sich im Verlauf ganz langsam ins geisterhaft Märchenhafte, auch in diesem Film wird weniger auf Dialog denn auf Bild und Geräusche gebaut, und regt so die Phantasie der Zuschauer aufs beste an. „Travelogue Tel Aviv“ von Samuel Patthey, fällt zunächst deshalb aus dem Rahmen, weil es ein Animationsfilm ist. Die leicht krakeligen Zeichnungen aus einem Reisetagebuch und eine spannenden Tonkollage zeigen Eindrücke eines Israel Aufenthalt, und machen das Erlebte mit einfachen Mitteln auf der Leinwand erfahrbar. Einsamkeit, Verlust und Abschied in „Fast alles“ von Lisa Gertsch, ein Paar um die 40, versucht dem Unausweichlichen zu entfliehen, aber die Fortschreitenden Alzheimer Erkrankung des Mannes schiebt sich immer unerbittlich in den Vordergrund; vor allem auf Grund der beiden Darsteller ein toller Film.

Der Dokumentarfilm „Hafis und Mara“ von Mano Khalil erzählt vom libanesisch-schweizerischen Maler Hafis und seiner rheinländischen Frau Mara, so weit so einfach. Zunächst scheinen die Rollen und Positionen klar abgesteckt, hier der quirlige, extrovertierte, fleissig malende Künstler, dort seinen ruhige, um-und versorgende Ehefrau, ein eingespieltes Team seit Jahrzehnten. Stück für Stück verschiebt sich die Sicht, Hafis ist nicht nur extrovertiert, er ist auch egozentrisch und irgendwie rücksichtslos, Mara ist nicht nur die Ehefrau, die durch ihr Geld diese Künstlerleben erst möglich macht, sie ist sich mit den Jahren abhanden gekommen, eine Diskussion hat in den vielen Ehejahre anscheinend nie stattgefunden; aber vor der Kamera tauchen langsam und zögerlich Risse auf. Die Stärke des Films ist, diese Risse zu dokumentieren, ohne sie zu werten, und ganz langsam ergeben sich dadurch neue Perspektiven auf, aber auch für das Paar.

Letzter Film dieses ersten Tages „Tranquillo“ von Jonathan Jäggi. Nachdem bei einem jungen DJ ein Tinnitus festgestellt wird, fängt er an sein bisheriges Leben, mit Freundin, Kumpeln und relativ klaren, eher konventionellen Bahnen, umzukrempeln, immer auch in der Hoffnung das Rauschen und Pfeifen in seinem Kopf wieder loszuwerden. Schön und spannend ist der Film vor allem, weil er nicht in langweiligen Dialogszenen aus Schnitt-Gegenschnitt erzählt wird, sondern viel mit ruhigen, statischen, aber interessanten Bildern arbeitet, dazu kommen extrem beängstigende Toneffekte, die den Tinnitus fast erfahrbar machen. Mit dem Wechsel der Lebensweise, wechselt auch die Bilddramaturgie, Einstellungen werden dichter, die Kamera bewegter, wilder, ohne den vorherigen Rahmen komplett zu verlassen, so wenig wie der Protagonist wirklich eine Änderung seines Lebens und eine echte Verbesserung seines Gesundheitszustands erreicht. Ein sehr gelungener Erstlingsfilm.

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