Solothurn_2018_Tag 2

Wir haben kein Geld, aber wir haben Kohle

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(c) ch.dériaz

Solothurn zeigt sich grau, kalt und mit Nieselregen, allerbestes Kinowetter also.

 

„Köhlernächte“ von Robert Müller ist ein wunderbarer Auftakt für so einen Morgen. In fast mystisch anmutender Berglandschaft begleite er 3 Generationen von Köhlern, vom Aufbau ihrer Meiler bis zur zum Abpacken der fertigen Holzkohle. Die Freude, die alle dabei haben, Holz zu hacken, aufzuschichten, mit Kohlebrei abzudichten, und zu „kokeln“ ist, auch auf Grund der phantastischen Bilder, ansteckend. Gleichzeitig erzählt der Film von einem aussterbenden Handwerk, das mittlerweile zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde. Für den deutschen Markt bräuchte dieser Film allerdings dringend Untertitel, da das Schweizerdeutsch eines Innerschweizer Dorfs wirklich schwer verständlich ist.

Neben der Programmschiene Talente, gibt es auch eine eigene Kurzfilm Programmierung, Zeit also zu schauen was dort geboten wird. Florine Leoni beobachtet die drei Teenager, „Aysha Kevin Michele“, sie folgt ihnen beim Laufen in einer Turnhalle, Computerspielen, Backen, fragt sie nach ihren Träumen, nach ihren Wünschen für ihr Leben, und obwohl alle drei ziemlich offen sind, kommt man den Personen nicht wirklich nah. Es fehlt der Hintergrund um sie zu verorten, selbst das Heim, in dem sie wohl untergebracht sind scheint leer und verlassen; ein interessanter Ansatz, der aber nicht wirklich aufgeht, die Personen bleiben frei in einem abstrakten Raum schweben. Wesentlich näher kommt man der jugendlichen Strassenbande in „Sacrilège“ Christophe M. Saber, gockelndes Gehabe, pseudo Rangkämpfe, und doch versteht man, dass das ganze Gebilde extrem labil ist, und sich die Bande bei der ersten Gelegenheit gegen den selbsternannten „Paten“ wenden wird. Als das Gerücht gestreut wird, er habe Geld aus der Moschee gestohlen zerbricht seine Position schlagartig. Wunderbar gespielt und in konstant unruhiger Stimmung gehalten, strebt der Film auf die Demontage des Anführers zu. „Salade russe“ von Eileen Hofer, erzählt ein Trink- und Essgelage von mittelalten Russen, Toasts werden ausgesprochen, auf die Frauen, auf die Männer, auf die Heimat. Aber bei Heimat erhitzen sich plötzlich die Gemüter, nicht alle sind einverstanden mit den verklärenden Reminiszenzen auf die Sowjetunion, die Stimmung am Tisch kippt. Erst als es zum Nachtisch Eis gibt, das alle einhellig mit ihrer Kindheit verbinden, kehrt Frieden ein in der mittlerweile recht betrunkenen Gruppe. Die Schwarzweissbilder sind interessant, trotz des statischen Settings, der Schnitt ist flüssig und rhythmisch, trotzdem ist der Film zeitweilig zäh. „In a Nutshell“ von Fabio Friedli ist ein wunderbarere Stoppmotionfilm, der in rasender Abfolge, die Welt, den Krieg, die Liebe, das Leben und den Tod erzählt, toll!

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Das Leben vor dem Tod“ von Gregor Frei macht es dem Zuschauer am Anfang etwas schwer, gewinnt aber im Verlauf enorm und wurde am Ende mit langem und frenetischen Applaus bedacht. Der Dokumentarfilm begleitet über 4 Jahre den Vater des Regisseurs und dessen Nachbarn in einem kleinen Tessiner Dorf; anfangs ist es die Idee des Vaters, der sich nicht damit abfinden kann und will, dass sein Nachbar seinen Freitod vorbereitet, und deshalb einen Film darüber machen will; zur Unterstützung des Projekts bittet er seinen Sohn um Hilfe. Die Idee ist wohl eine Gesprächssituation zu filmen, und mit den Gesprächen, das Thema auszuloten. Und dieser Anfang, an dem der Film noch keinen eindeutigen geistigen und künstlerischen „Vater“ hat, in dem es geschwätzig aber nicht interessant zugeht, gilt es zu überstehen, danach läuft der fast experimentelle Film über die ganz grossen Fragen des Lebens wunderbar, und lässt die Zuschauer nachdenken, lachen und mitfühlen, ohne ins Trostlose zu kippen.Der beeindruckendste Film heute ist „Chris the Swiss“ von Anja Kofmel, sie kombiniert Dokumentation mit Animation, verwebt mit Archivmaterial und führt als Ich-Erzählerin durch ihre sehr persönliche Suche nach dem wahren Schicksal ihres Cousins, der im Krieg in Kroatien ermordet wurde. Entstanden ist ein gewaltiges Werk, dass nicht nur die Hintergründe dieses Todes zeigt, sondern in seiner Komplexität ein allgemeingültiges Statement gegen Krieg und Gewalt ergibt. Man erfährt nicht nur, dass ihr Cousin als Journalist in Kroatien vom Krieg berichtete, sondern, dass er irgendwann die neutrale Objektivität verlassen hat, sich einer kämpfenden Freiwilligentruppe obskurer Art angeschlossen hat, und dort wohl Leuten „auf die Füsse getreten“ ist, was zu seinem, nach wie vor nicht restlos geklärtem, Tod geführt hat. Unterwegs mit seinen Aufzeichnungen aus der Zeit, fährt sie seine letzten Wege nach, spricht mit Journalisten, die ihn kannten, mit ehemaligen Kämpfern, mit der Familie, und immer wieder, abstrahiert und verdichtet die Animation das, wofür es keine dokumentierbaren Bilder (mehr) gibt. 6 Jahre Arbeit stecken in diesem Film, den man gar nicht genug empfehlen kann.