Solothurn_2018_Tag 4

Wenn das Tier erwacht

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Konzertsaal (c) ch.dériaz

 

 

Die Wege sind kurz, die Stadt ist übersichtlich und hübsch und die Kinos, oder in dem Fall eher Spielstätten, haben so klangvolle Namen wie Landhaus, Konzertsaal, Reithalle oder Uferbau. Ein Wohlfühlfestival mit angenehmer Stimmung, wo man auch einfach auf der Strasse mit Filmemachern ins Gespräch kommen kann.

 

 

Unter dem Titel „Ondes de choc“ hat das französischsprachige Schweizer Fernsehen vier Filme in Auftrag gegeben, zum Beispiel „Journal de ma tête“ von Ursula Meier. Ein Abiturient beschreibt in einer Art literarischem Tagebuch, die Vorbereitung und den Morde an seinen Eltern. Ein verwirrter Junge, den möglicherweise die Schreibübungen seiner Französischlehrerin, wenn nicht zur Idee, aber doch möglicherweise zum Umsetzen der Tat gebracht haben. Der Film findet ungewöhnliche Kameraperspektiven, schleicht sich an die Figuren an, arbeitet viel mit sehr nahen Detailaufnahmen, womit einen eigentümlich fragmentierte Stimmung erzeugt wird. Schuld und Verantwortung der Tat, der Umgang mit den Folgen, das Weiterleben, alles bleibt in einem merkwürdigen, festgefrorenen Schwebezustand; kann Literatur einen Jugendlichen zum Mörder machen? Hätte man das absehen können? Ein toller Film, ein toller Auftrag vom Fernsehen, der Mut verlangt, und der mit Vertrauen honoriert werden sollte. Als Vorfilm lief „Premier amour“ von Jules Carrin erzählt wird eine, auf Grund der sozialen Verhältnisse, unmögliche, oder verbotene Liebe, in schönen, warmen Bildern. Ruhig und warm wie ein Herbsttag, was die Tragödie umso herzzereissender macht. Wann kommen eigentlich die Vorfilme wieder zurück in die Kinos?

Weiter geht es mit Jugendlichen, in „Blue my mind“ von Lisa Brühlmann geht es um die vielfältigen Veränderung im Leben der 16 jährigen Mia. Neue Schule, neue Mitschüler, aber von Anfang an scheint ihre Welt aus dem Gleichgewicht zu sein. Sie tut vieles mit einer enormen Aggressivität, der sie selbst wie ratlos gegenübersteht. Mit dem Einsetzen ihrer ersten Periode tauchen seltsame körperliche Phänomene auf, zusätzlich scheint sie in allem exzessiver zu werden als ihre Freundinnen, mehr Drogen, mehr saufen, mehr Sex, und dann gibt es noch ein unerklärliches Bedürfnis sich die Zierfische ihrer Mutter in den Mund zu stopfen. Mia, verwandelt sich, mehr sollte man nicht sagen. In seiner Bildsprache überwiegt das titelgebende Blau, an Wänden, Kleidung, oder Licht, und erzeugt eine visuelle Blase, die alles zusätzlich umhüllt. Der Film hat gerade in Saarbrücken den Max Ophüls Preis gewonnen, und wenn so ein Film schon als Abschlussarbeit herauskommt, kann man gespannt sein wie es in Lisa Brühlmanns Karriere weiter geht. Auch die junge Sarah in „Sarah joue un loup-garou“ von Katharina Wyss sucht nach ihrem Weg ins Erwachsenwerden, auch sie scheint eine verwirrte, einsame Seele zu sein. Unverstanden von ihrer Umwelt, verstrickt sie sich in immer andere Lügengeschichten. Die Theatergruppe in der sie spielt scheint zunächst ein Ort zu sein, in dem sie mit ihrer Phantasie kreativ und auch konstruktiv umgehen kann, aber auch dort glaubt sie mehr Ablehnung zu spüren. Der – mindestens – emotionale Missbrauch durch den Vater, die überforderte Mutter tun ein Übriges um den labilen, autoaggressiven Zustand zu verstärken; Auswege gibt es keine mehr, auch keine Lichtblicke.

Die jungen Fussballer in Marcel Gislers Film „Mario“ sind ein wenig älter, aber auch hier müssen die beiden Jungs ihren Weg erst noch suchen. Kein leichtes Unterfangen, schwule Profifussballer haben es im Alltag immer noch extrem schwer, und die zarte Liebesgeschichte, die sich zwischen Mario und Leon anbahnt wird ein Opfer der Umstände, in denen sie wählen müssen, ob sie sich verstecken, und spielen können, oder ihre Sexualität offen leben, und dem Profifussball den Rücken kehren müssen. Der Film ist schön gedreht, hat super Schauspieler, ein intelligentes Drehbuch, dass nicht auf Sentimentalität baut, gute Unterhaltung, nicht nur als Nischenfilm.