Solothurn_2018_Tag 3

Bekenntnisse und Intimitäten

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Schlange stehen am Morgen (c) ch.dériaz

Filme, besonders Dokumentarfilme, die sehr Privates, sehr Persönliches erzählen sind im Trend, nicht immer gelingt es dabei Peinlichkeiten zu vermeiden oder den Zuschauer wirklich zu packen, am 3. Festivaltag gab es gleich 3 Dokumentarfilme, die schafften zu faszinieren, Einblicke in fremde Leben zu gewähren und das alles ohne unangenehmen Voyeurismus.

Zum Beispiel „Die Gentrifizierung bin ich – Beichte eines Finsterlings“ von Thomas Haemmerli, so schräg wie der Titel schon daher kommt ist auch der ganze Film. Schonungslos mit sich selbst, offen, witzig, ein Rundschlag ums eigene -politische- Leben. Vom Hausbesetzer der frühen 80ger Jahre zum Besitzer mehrerer Wohnungen in verschiedenen Ländern, vom Bewahrer alter urbaner Strukturen zum Kämpfer für andere, neuere, in dem Fall vertikale, Strukturen städtischen Lebens. Was bleibt ist die Grundhaltung des sozial und politisch denkenden Menschen Haemmerli, was sich ändert sind die anzuwendenden Methoden, zur Verbesserung der Welt. Vom Duktus her angelehnt an TV-Reportagen der 80ger Jahre und mit viel Schalk in Nacken mäandert der Film durch die persönlich Weltsicht des Regisseurs. Unbedingt empfehlenswert.

Private Banking“ (Teil1&2) von Bettina Oberli, ist ein grosser TV Mehrteiler, sauber gemacht, super Schauspieler – die auch den Schweizer Fernsehpreis geholt haben – und ansonsten mit allen, bekannten, Komponenten des TV Familiendramas ausgestattet. Der sieche Patriarch, die uneheliche, ehemals drogensüchtige, Tochter, den intriganten Sohn, die schmallippige, betrogene Ehefrau, den Emporkömmling aus einfachsten Verhältnissen… alle, einfach alle, die man sich zum Thema Familienbetrieb, in dem Fall Privatbank, vorstellen kann, kommen vor, und agieren ihren wohlbekannten Positionen entsprechend. Gut gemachte Hausmannskost. Nach drei Stunden TV im Kino, gibt es nicht nur frische Luft und Bewegung, sondern endlich etwas Sonnenschein, Solothurn in sonntäglich- freundlichem Licht. Statt zu flanieren dann doch schnell wieder in einen dunklen Kinosaal.

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(c) ch.dériaz

Das Erste und das Letzte“ von Kaspar Kasics zeigt mit sehr viel Einfühlungsvermögen die Geschichte einer an Krebs sterbenden Frau, Thema sind nicht etwa Tod und Krankheit, sondern die Kindheit. Interviews, die durch die Nahaufnahme der Sprechenden eine enorme Intimität haben, wechseln sich mit zarten Aquarellen ab, die Teile ihrer Geschichte aufnehmen, Photos aus der Vergangenheit, die Antagonisten des Gesagten sind, ein (Schnitt-)Rhythmus, der dem eines Gesprächs entspricht. Das Erzählte erschüttert, geht es doch um eine Frau, die erst unmittelbar vor ihrem Tod von Schlägen, Demütigungen und Grausamkeit durch ihre Eltern spricht, die auch erst im Angesicht des nahen Todes erkennt, oder sich eingesteht, wie sehr dies sie und ihre Geschwister zerstört hat.

Und auch im letzten Film des Abends „Fell in love with a girl“ von Kaleo La Belle geht der Regisseur schonungslos mit der Kamera auf sich und seine Umgebung los. Mit seiner Ex-Frau, den drei Kindern und der neuen Freundin lebt Regisseur La Belle in räumlicher Nähe in Luzern, ein Familiengebilde, das recht gut funktioniert, die Kinder haben Zugang zu allen Erwachsenen, die emotionale Lage scheint stabil und freundlich. Mit dem Beschluss, für ein Jahr, in die USA zu gehen, mit Kind und Kegel sozusagen, beginnt auch das filmische Tagebuch. Manchmal aufdringlich bis zur Schmerzgrenze, wird jeder Schritt, jede Emotion und jede Niederlage in Bildern festgehalten. Die Perspektive ist fast immer die des Ich-Erzählers, die Bilder, mal 8mm, mal 16mm, dann wieder mit digitaler Kamera gedreht gehen weit über ein „Homemovie“ hinaus, selbst da wo sie etwas wackelig werden, sind sie immer noch gut, wird ihr scheinbarerer Fehler in ein künstlerisches Konzept integriert. Die Offenheit mit der in dem Film erzählt wird geht nah, manchmal möchte man wegsehen, die Menschen einfach alleine wissen mit ihren Problemen, trotzdem fühlt man sich nicht als Eindringling. Der Versuch eine, für alle, lebbare, gute Form des Miteinanders zu finden ist spannend bis zum Schluss, oder eigentlich darüber hinaus, ist am Ende zwar das Jahr in den USA abgelaufen, die Suche nach der richtigen Familienform aber nicht wirklich abgeschlossen.

Fazit nach der Halbzeit: viele gute, sehenswerte Schweizer Filme.