Es gibt mehrere Momente in LEAVE NO TRACE, wo jemand durchaus nachvollziehbare Zweifel hat an der Geschichte, die ein fremder Mensch auftischt. Dann aber, nach kurzem Abwägen, einfach vertraut. Und nie bestraft der Film dieses Vertrauen.
Das ist nicht selbstverständlich bei einem Film, der in einem Milieu von Versehrten, Abgehängten, Aussteigern spielt. Da liegt oft die Versuchung eines sozialpornographischen Kinos nahe, das sich insgeheim weidet daran, wie schlimm alles ist.
Doch wie schon WINTER’S BONE heischt auch Debra Graniks neues Werk nicht nach Emotionen, will Empathie nicht durch lautstarkes Drama, äußeren Aufruhr erzwingen. LEAVE NO TRACE muss nicht andauernd die Narben blutig kratzen, um spüren zu lassen, wie tief die Wunden sitzen. Es wird in der Alltagsbeobachtung mehr als klar, dass der Irakkriegs-Veteran Will (Ben Foster) ein fundamental versehrter Mensch ist, der nicht mehr sesshaft werden kann, der rastlos flieht vor allen völlig wohlmeinenden staatlichen Therapieangeboten, aller Zivilisation. Der so etwas wie Sicherheit nur noch fühlen kann, wenn er tief in den Wäldern verschwindet, unsichtbar für die Gesellschaft, die Autoritäten. Und dass seine Teenager-Tochter (Thomasin Harcourt McKenzie) durchaus Liebe für ihren Vater empfindet, dass sie nicht rein als Geisel in diesem Leben mitgefangen ist – dass es aber auch nicht wirklich ihr Leben ist, da sie nicht die gleichen Wunden teilt.
Was für eine komplexe Gefühlslage das ist, macht LEAVE NO TRACE in jedem Augenblick, jeder Handlung, jeder Reaktion greifbar. Ganz selten nur spricht jemand einen der wunden Punkte wirklich aus – und wenn, dann geschieht es ruhig, und in lediglich einem Satz. Und das genügt, um einen als Publikum emotional zu zerstören.

Granik hat eine unerschöpfliche Neugier auf Menschen, und eine enorme, zutiefst humane Offenheit. Sie denunziert niemanden, schenkt immer zuerst Vertrauen – keineswegs auf naive Art, sondern aus einer reifen Überzeugung, dass das Schlechte (außer in Ausnahmefällen) nicht im Individuum sitzt, sondern im System.
Granik kann ältliche, korpulente Damen zeigen, die in ihrer Kirche in selbstgebastelten Glitzeroutfits frommen Ausdruckstanz mit Tücherschwenken aufführen – und es ernst nehmen, weil diese Frauenes ernst nehmen. Ohne sich darüber lustig zu machen – aber ebenso, ohne deshalb den Glauben dahinter teilen zu müssen.
Was Debra Granik beherrscht, ist vielleicht die höchste Kunst im Kino überhaupt: Das Ego zurücknehmen und den Blick vorurteilslos wirklich frei zu bekommen für Menschen; nicht permanent die eigene Meinung zu inszenieren, sondern zunächst wirklich hinzuschauen. Und dabei dennoch stets einen Standpunkt erkennen zu lassen, eine Weltsicht – die aber so gefestigt ist, dass sie sich nie auf-, vordrängen müssen.
Gerade das macht ihre Filme letztlich viel politischer, und politisch bedeutsamer, als alles, was sich gemeinhin das Politische groß auf die Fahnen schreibt. Die Ecken und Nischen von Oregon, die LEAVE NO TRACE zeigt, gehören wohl zu „Trump Country“, und jedenfalls portraitiert sie jene „Abgehängten“, deren Unmut der Nährboden für Rechtsnationalismus sei. Doch Granik macht diese ganze fundamentale Trennung in zwei Lager, in links und rechts nicht mit, die derzeit die gesamte US-Kultur durch- und verseucht. Sie zeigt schlicht Menschen, bei denen sich der Druck des gesamten Systems am untersten Punkt sammelt. Die darauf aber nicht mit Zorn reagieren, sondern mit Solidarität untereinander – Menschen, die sich eine Parallelwelt, ein Parallelsystem zu schaffen suchen, das der Sache nach deutlich näher am Sozialismus denn am Neoliberalismus ist.
Einen stärkeren, dringender benötigten Film über die heutigen USA dürfte weder das restliche Filmfest, noch das restliche Kinojahr parat haben.
Es tut verdammt weh, wenn am Ende das Eingeständnis steht, dass manchen im Innersten Verletzten beim besten Willen nicht zu helfen ist, sie nicht zurückzuholen sind in die Gemeinschaft. Aber bei Granik ist auch das verbunden mit der Hoffnung, dass man sie ihren eigenen Weg gehen lassen kann, so bitter und einsam der ist – und ihnen vertrauen, wenn sie sagen, dass es für sie der einzig gangbare ist.
Anna Edelmann & Thomas Willmann