Halbzeit beim Festival
Mittlerweile haben sich zu den Fächern auch die Regencapes gesellt, zumindest an den Abende gibt es plötzlich immer wieder heftige Gewitter, also Fächer weg, Cape übergestreift, und weiter geht’s.
Die allgegenwärtigen Taschenkontrollen sind lästig, besonders wenn man immer wieder diskutieren muss, um eine Aluflasche mit Wasser ins Kino zu bekommen. Das letztes Jahr eröffnete PalaCinema hat die Probleme mit den wartenden Zuschauern zumindest verbessert, Drängelgitter draussen und verschiedene Türen für die 3 Säle helfen den Pulk zu strukturieren. Und wie oft zur Halbzeit wird Carlo Chatrians Stimme heiser, Begeisterung ist anstrengend für die Stimmbänder.
Amerika jenseits der grossen Städte und des Glamours kommt nicht so oft vor in Filmen. Aber genau dort, in einer ländlichen, trüben und auch ärmlichen Gegend siedelt Kent Jones die Geschichte von „Diane“ an. Eine Frau, die immer für andere da ist, sich um Nachbarn kümmert, die todkranke Cousine besucht, in der lokalen Suppenküche arbeitet, immer ein nettes Wort hat, für jeden, sich alles anhört und sich zwischendrin noch vor Sorge um ihren drogensüchtigen Sohn zerreisst. Sie ist eine Art Alltags-Superheldin, immer zur Stelle aber irgendwie unauffällig, selbstlos bis zur Selbstaufgabe. 80 Minuten lang ist dies ein wunderbarer Film, alle Handlungsstränge sind erzählt, und der Zuschauer könnte mit den Bildern im Kopf einen weiteren Verlauf für sich erfinden. Aber irgendwer hat wohl gemeint jeder lose herumliegende Fadenfitzel müsste zu Ende gesponnen werden, und damit verliert der Film in der letzten Viertel Stunde erheblich, zu viel Redundanz, zu wenig Platz für Phantasie.
Die Armut und Verwahrlosung in „Ray and Liz“ von Richard Billingham springt einem von der Leinwand fast spür-und riechbar entgegen. Am Stadtrand von Birmingham spielt die autobiographische Familiengeschichte, eine Art visueller Sozial-Autopsie in spannenden Bildern. Extreme Detailaufnahmen, mal von krabbelndem Getier, von zitternden Fingern am Glas, oder Teilen von Gesichtern, um dann wieder einen Schritt zurück, und in ruhigen, sehr exakt in 4:3 kadrierten Bildern die Szenen zu betrachten. Es entsteht so ein Gefühl für die Situation der Figuren, Anteilnahme ist möglich, (ab)werten bleibt aus.
Nach soviel Grau blendet nicht nur die Sonne vor dem Kino, sondern auch die üppige, bunte Fröhlichkeit der drei Freundinnen auf einem Segelboot zwischen kroatischen Inseln in „Likemebest“ von Leonardo Guerra Seràgnoli. Überfröhlich, ausgelassen und hochgradig Handy-und Socialmedia süchtig sind die drei. Und damit sind auch schon die Probleme vorprogrammiert, für ein Like mehr vergessen sie alle Regeln der Freundschaft und des zivilisierten Miteinanders, gnadenlos wird gefilmt und photographiert, und ebenso gnadenlos gepostet.Und was wie eine fröhliche Abiturreise beginnt bewegt sich immer mehr Richtung Drama epischen Ausmasses. Auch Dank der drei tollen jungen Schauspielerinnen schaut man sich das bei allem Schaudern gerne an. Gewidmet ist der Film übrigens allen Mobbing-und Cybermobbingopfern.
Bisher gab es noch kein Kuzfilmprogramm, bei dem alle Filme gut waren, also wieder nur eine „Best of“ Auswahl.
„Rekonstrukce“ von Jiri Havlicek und Ondre Novák zeigt zunächst den öden und kargen Alltag in einem Gefängnis, ein junger Häftling bei der Arbeit, beim Sport, rauchend und redend, distanzierte Bilder, ein Ort dessen Funktion sich in den graphischen Bildern widerspiegelt. Dann wird parallel die Rekonstruktion des Falls gezeigt, der denn Mann ins Gefängnis gebracht hat. Akribisch muss er den brutalen Mord an einem Obdachlosen nachstellen, die extreme Brutalität wird durch die sehr dunkel gehaltenen Bilder und die technischen Anweisungen noch brutaler und noch unverständlicher.
Eine schwarze Kommöde ist „The silence of the Dying Fish“ von Vasilis Kekatos. Auf dem Weg zur Arbeit erfährt ein Mann, dass seine eigen Beerdigung für den übernächsten Tag in der Zeitung angekündigt wird. Alle seine Versuche zu belegen, dass er sehr wohl am Leben ist, und es sich nur um eine Irrtum handeln kann, helfen nichts. Da muss er durch. Schräg!
Lose basierend auf Kafkas „ein Brudermord“ und angesiedelt im nächtlichen und titelgebenden „Grabavica“ erzählt Manel Raga Raga eine Geschichte, die wohl so alt wie die Menschheit ist, und dabei immer noch aktuell ist. Dunkle Bilder, zwei Jungs raufen, ein Messer kommt ins Spiel, an einer anderen Stelle, zwei Männer, einer am Boden, ein Messer. Nicht ein Mord wird hier erzählt, sondern die Essenz, das Wiederkehren des Motivs, das ist beeindruckend, gerade in seiner Schlichtheit.
Am Abend gibt es nicht nur einen Ehrenleoparden für Kyle Cooper, sondern es wird auch des 70.Geburtstag der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte gedacht, und bei strömendem Regen hält UN Kommissarin für Menschenrechte Kate Gilmore eine flammende und bewegende Rede. Dazu passt Spike Lees neuer Film „BlacKkKlansman“, der spannend und witzig ist, und einem dennoch das Lachen wieder in den Hals zurück treibt, ob seiner Aktualität.

(c) ch.dériaz
Es baucht mehr Animationsfilme
3 Programme mit insgesamt 17 Kurzfilmen und es sind nur 6 der Rede Wert, keine so tolle Ausbeute.
„Je sors acheter des cigarettes“ von Osman Cerfon erzählt in simpsonshafter Art, wie ein Junge überall in der Wohnung auf versteckte Männer stösst, sie sind im Schrank genauso wie in der Waschmaschine, und scheinen mit ihm, und nur mit ihm, zu interagieren. Bis er auf ein altes Familienbild stösst, das ein Geheimnis lüftet und ihn von seinen Geistern befreit.
Chinesischen Tuschezeichnungen gleich begeben sich drei Renees auf die Suche nach sich, und bewegen sich dabei in sich selbst und um sich selbst. „Reneepoptosis“ von Renee Zhan ist zauberhaft, intelligent und lustig.
Man sollte Mädchen nie unterschätzen, „Fuck you“ von Anette Sidor zeigt das charmant, frech und sehr selbstbewusst; was ein umgeschnallter Gummipenis so alles bewirken kann…
Der Kurzfilm „Como Fernando Pessoa Salvou Portugal“ von Eugène Green gehört zur Programmschiene Signs of Life, in der dieses Jahr erstmals auch ein Preis vergeben wird. Green erzählt wie ein Werbespruch für eine Cola in den 1920 Jahren in Portugal die Behörden auf den Plan ruft, und nachdem von einem Jesuiten bewiesen wird, dass in der Cola böse Geister wohnen, beschlossen wird sämtliche Flaschen zu vernichtet und der Handel unterbunden werden muss. Allein die Szene in der der Jesuit die Austreibung vornimmt, durch heftiges Schütteln und dann Öffnen der Flasche, ist sensationell. Ein grosser, grober Spass.
Weiter mit der Kurzfilmauswahl, aber zurück zu den Leoparden von morgen.
Juliette Riccaboni erzählt eine sehr schöne Geschwistergeschichte in „Les îles de Bissogne“. Nachts auf einem LKW Parkplatz unterhalb einer Autobahn, eine junge Prostituierte wird um ihr Geld geprellt, ihr Bruder eilt zur Hilfe, irgendetwas scheint mit ihm nicht zu stimmen, aber erst Stück für Stück erschliesst sich, dass er geistig nicht ganz auf der Höhe ist. Die Beziehung zwischen beiden ist liebevoll, aber stark von der Schwester dominiert, bis der Bruder sexuelle Neigungen zu ihr entwickelt. Beziehungsgeflechte, Abhängigkeiten und Sprachlosigkeit, ein stilles Drama.
„SELFIES“ von Claudius Gentinetta zeigt in rasanter Folge Selfies in immer groteskeren Situationen, die Bilder sind übermalt, verfremdet, und offenbaren den gesamten Wahnsinn, der hinter der ständigen Nabelschau verborgen ist.
Eine Plastilinpuppe, Stopmotion und Pantomime sind die Komponenten aus denen „HIER“ von Loïc Kreyden besteht. Ein Tag im Leben des Regisseurs, reduziert auf die Puppe, deren pantomimischen Bewegungen und den Tönen all dessen, was nicht im Bild ist, wunderbar.
Ein weiterer Film in dem widrige – soziale wie persönliche – Situationen überwunden werden: „Temporada“ von André Novais Oliviera. Neuer Job, neue Stadt, und der Ehemann soll nachkommen, aber alles kommt anders. Der Ehemann nutzt die Gelegenheit und verschwindet, und die Frau lernt mit sich und ihrem Leben klar zu kommen. Die brasilianische Sonne hübscht die triste Kulisse etwas auf, kann aber nie ganz davon ablenken. Manche Szenen wirken arg statisch, mit langen, etwas hölzernen Dialogen, aber insgesamt ein überzeugender Film, mit einer weiteren starken und präsenten Frauenfigur jenseits von „blond-29-durchtrainiert“ .

(c)ch.dériaz
Auf der Piazza Grande gibt es den Schweizer Film „Le vent tourne“ von Bettina Oberli. Angekündigt wird eine Frau, die sich emanzipiert, zu sehen ist aber eher eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund eines Ökobauernpaares. Autonom soll der kleine Berghof sein, auch vom Strom, und so kaufen die beiden ein Windrad. Mit dem Windrad kommt allerdings auch ein Ingenieur, der den Aufbau leitet, und für emotionale Unruhe sorgt. Alles nicht so sehr neu und originell als Ausgangslage, und die Konflikte werden auch in diesem Setting nicht anders gelöst als sonst. Hübsch aber nicht übermässig aufregend, dass es dazu ab der Hälfte gegossen hat ist dann auch schon egal.
Warum es also mehr Animationsfilme baucht? Weil sie – fast immer – sofort für gute Laune und ein Lächeln sorgen.