Chatrians letztes Programm für Locarno

Carlo Chatrian (c) ch.dériaz
Gefühlt hat er gerade erst angefangen in Locarno, mit seiner noch etwas zurückhaltenden, fast etwas schüchternen Art, mit Programmen, die seine grosse Kinobegeisterung widerspiegeln, mit (Star)Gästen, die ihm wahrhaftig am Herzen lagen, und mit jährlich wachsendem Selbstvertrauen ohne dabei an Charme zu verlieren. Objektiv ist diese 71 Ausgabe des Filmfestivals von Locarno, die sechste und letzte unter Chatrians künstlerischer Leitung, man wird ihn also ziehen lassen, schweren Herzens, und hoffen, dass er im grauen Berlin auch seine Filmleidenschaft einbringen können wird. Schade ist es trotzdem, er passte in seiner freundlich-unangepassten Art gut zu Locarno, dem A Festival, das immer etwas weniger ernst genommen wird in im „Ranking“ der grossen Festivals.
Wenn Eröffnung und schweizerischer Nationalfeiertag zusammenfallen, wird es immer etwas pathetischer in den Reden, und so mischten sich in die Ansprachen des Festivalpräsidenten Marco Solari historisch-politische Bezüge zu seinem jährlichen Aufruf, der Freiheit Raum zu geben. Auch ein wenig Wehmut schwingt schon mit, selbst wenn er betonte, dass während des Festivals weder vom Abschied Chatrians und erst recht nicht von dessen Nachfolge die Rede sein wird.
Und so waren die dunklen Gewitterwolken, die sich am Abend über der Leinwand der Piazza Grande auftürmten, auch mehr Dekoration, denn Bedrohung, der Regen blieb aus, das Lachen übernahm den Abend.

(c) ch.dériaz
Den Anfang machte „Liberty“ von Leo McCarey, dem eine Retrospektive gewidmet ist, 23 Minuten Spass mit Laurel und Hardy, begleitet von Live Musik, die mit viel Witz und Musikalität dem Film zusätzliche Tiefe gab.
In Welturaufführung dann „Les beaux esprits“ von Vianney Lebasque, eine familienfreundliche, leichte Geschichte um ein Basketballteam, das zu den Paralympics fährt, aber mangels ausreichender Spielerzahl die Mannschaft mit nicht geistig Behinderten aufstockt. Der Film ist erfreulicherweise weder ein Sport(ler)Film, noch eine belehrende Inklusionsgeschichte, sondern viel mehr eine Art „Buddy-Movie“ in dem eine inhomogene Gruppe zusammenwächst,und dabei jede Menge Spass hat.

(c) ch.dériaz
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne….“
…das gilt auch für den ersten Festivaltag, alles offen, ein Katalog voller neuer Filme, Auswahl aus dem Vollen also.
Mit Kurzfilmen zu beginnen scheint eine gute Idee, erweist sich aber dann zunächst als Flop. „El Labirinto“ von Laura Huertes Millán erzählt von einem Drogenbaron, dessen Haus eine Kopie des „Denver Clan“ Anwesen war. Die Kamera streift durch die Ruine des früheren Glanzes, unterschnitten mit kurzen Schnipseln der TV-Serie, unterlegt mit der kommentierenden Erzählerstimme eines alten Landarbeiters. Alles etwas konfus, am ehesten experimentelle Anthropologie. „ 3 anos depois“ von Marco Amaral verwirrt, aber das mit interessanten, schönen Bildern und einem eigenwilligen Schnittkonzept, das immer genau das bildlich hervorhebt, das gerade nicht im Zentrum des Inhalts steht, wodurch sich eine Verschiebung in der Zeitebene andeutet. Überragend dann „Saras intime betroelser“ von Emilie Blichfeldt, ein Film der von Minute zu Minute verrückter wird. Zunächst träumt sich die Studentin Sara in kitschig, erotische Abenteuer, aus denen ihr klingelndes Handy sie jäh in die graue Realität ruft. Eine Realität, in der für eine mollige, wenn auch selbstbewusste junge Frau, das Leben ein Kampf mit und gegen Dämonen ist, die ihr dann auch prompt aus dem Spiegel in Form einer knurrenden, hohläugigen Version ihrer selbst entgegen treten. Und dann meldet sich auch noch quengelnd, fordernd und bettelnd ihre Vagina zu Wort, sie will mehr Aktion! Verschiedene Farben, für die diversen Realitätsebenen und zusätzlich Animation auf den Realbildern ergeben einen frechen, witzigen und wunderbar feministischen Film.

(c) ch.dériaz
Aufwachsen in einem Ökodorf im Chile der 90ger Jahre ist die Basis für den schönen Film „Tarde para morir joven“ von Dominga Sotomayor. Während die Erwachsenen sich in ihren Träumen von einem alternativen Leben bewegen und sich manchmal dort verlieren, versucht die junge Sophia ihren Platz zwischen Kindheit und Erwachsensein zu finden. Um sie herum, als äusserer Ausdruck ihres inneren Durcheinanders, die lauten Vorbereitungen zum Jahreswechsel, der mögliche Besuch ihrer Mutter, und eine erste Liebe, die dann doch nur eine Enttäuschung mit sich bringt. Ein eher langsamer Film, mit einer sensationellen jungen Darstelerin, Demian Hernandéz, in einer wunderbar kargen Landschaft.
Der Abendfilm auf der Piazza Grande „L’ordre des médecins“ von David Roux, ist dann wieder eher konventionell. Erzählt wird wie sich ein junger Arzt damit abfinden muss, dass Sterben auch in seiner Familie zum Leben gehört, er muss erkennen dass seine Arbeitsethik auch für ihn gelten muss, er muss das Sterben der Mutter zulassen. Die Bilder sind schön, interessant bisweilen das Spiel mit Unschärfen, die Darsteller beeindrucken zum Teil mit sehr reduzierten Mitteln, aber wirklich bewegt hat der Film das Publikum nicht.
Der erste Tag brachte zwei zauberhafte Filme, das Festival ist noch lang und der Katalog birgt immer noch viele Versprechen auf spannende Filme.