
(c) ch.dériaz
Das wichtigste Accessoire dieser Tage ist der Fächer, kaum jemand, der ohne anzutreffen ist, vor den Kinos, in den Cafés, aber auch in den Kinos, überall das grosse Fächern.
Da kommt ein Film in kühlem Betongrau und sanftem Grün gerade recht.
„Jioa qu de niao“ (Suburban Birds) von QIUQ Sheng spielt mit der Zeit, in einer modern- trüben Vorstadtsiedlung hat sich unerklärlicherweise der Boden abgesenkt, ein Team von Ingenieuren versucht die Ursachen zu ergründen, misst und rechnet, rätselt, und langsam verschiebt sich die Zeit. Der Film wechselt in die Zeit, als die Siedlung noch in Planung war, eine Bande Kinder stromert zwischen den alten, maroden Häusern, und den noch nicht fertigen Neubauten. Komponenten, Konstellationen, einzelne Gegenstände aus der -möglichen- Gegenwart, tauchen in der -vermutlichen- Vergangenheit auf, Situationen wiederholen sich, und unmerklich streifen die beiden Zeiten aneinander, kreuzen sich, verlassen sich wieder, kehren zu einander zurück. Ein Tanz aus Heute und Gestern, gleichzeitig, oder auch nicht, verbunden, untrennbar, und, vielleicht, der Grund für die Bodenabsenkung. Starke Bilder, ruhiger Erzählfluss, surreal und ein bisschen märchenhaft.
Starke Filme in der heutigen Kurzfilm Vorstellung, zunächst die schöne, und lustige Parabel vom Kreislauf, der Zeit, der Dinge, des Lebens. Grosse Themen, in „Circuit“ von Delia Hess mittels Animation zu einem wunderbaren Film verdichtet.
Dann die verspielte, phantasiegeladene Geschichte, die eigentlich von Kummer und Schuldgefühlen spricht: „EVA“ von Xheni Alushi, in der eine Pfütze im Bad zum Eingang in eine andere Welt wird. Und schliesslich „Fait divers“ von Léon Yersin. In der Nachbarwohnung eines Studenten wird die Leiche eines Mannes gefunden, der anscheinend seit zwei Jahren dort tot gelegen hat, unbemerkt. Beunruhigt über dieses Schicksal recherchiert der junge Mann, und macht eine unglaubliche Entdeckung, mit der sich ein Kreis schliesst, den man als Zuschauer so nicht kommen sah. Spannend, gewitzt und toll gemacht.
Da es in den Kinos doch kühler auch draussen ist, wenn auch nicht viel, weil sie immer nur zwischen zwei Vorstellungen durch Klimaanlagen gekühlt werden, gleich weiter zum nächsten Film: „Sibel“ von Çağla Zencirci und Guillaum Giovanetti. Ein Dorf in den türkischen Bergen, abgelegen, raue Bedingungen, und archaische Sitten, und mit der Besonderheit, dass die Menschen dort über weitere Distanzen mittels Pfeifsprache kommunizieren. Auch die stumme Sibel kann sich so mitteilen, was allerdings nichts daran ändert, dass sie ausgeschlossen wird, von allen ausser ihrem Vater, sie macht Angst, sie bündelt Vorurteile und Aberglauben, und das nur scheinbar auf Grund ihrer Behinderung. Sibel ist eine wilde, mutige und unabhängige Frau, die in den verkrusteten Strukturen das sieht, was sie sind: Fesseln, Fesseln aus denen sie sich befreien muss, will und wird. Eine strake Frauenfigur in einem tollen Film, der mit langem, euphorischem Applaus belohnt wurde.

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Die dunklen Wolken haben es dann doch geschafft, sich in Regen zu verwandeln, der bringt zwar keine Abkühlung, vor allem wenn man sich auf der Piazza unter ein Regencape rettet um den Abendfilm zu sehen. Aber gut 2000 Zuschauer störte das alles nicht, und so wurde der Filmtitel auch irgendwie das Motto des Abends: „Was uns nicht umbringt..“ von Sandra Nettelbeck. Menschen um die 50, lose miteinander verbunden weil ihre Wege auf die eine oder andere Weise in der Praxis eines Psychologen zusammenlaufen. Befindlichkeiten, Probleme, Dramen, fehlende oder zu grosse Lieben, werden in verwobenen Szenen und in teilweise schräg-witzigen Dialogen behandelt, ein Ping-Pong Spiel von bekannten Sätzen, zu einem bunten Mosaik neu zusammengesetzt. Ein wenig zu lang, aber durchaus charmant.
Und am Ende hatte der Regen doch weniger Durchhaltevermögen als das Publikum.

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Immer wieder Familie….
Der Tod eines Familienmitglieds bringt nicht nur Trauer, sondern verschiebt auch nachhaltig die fragile Balance, die zwischen den Weiterlebenden herrscht. In María Alché
Debütfilm „La famila sumergida“ scheint nach dem Tod ihrer Schwester nur Marcelas Welt aus dem Gleichgewicht zu sein, ihre Kinder üben weiter Unabhängigkeit, nur um im nächsten Moment, mit inneren oder äusseren Blessuren, zurück zur Mutter zu laufen, der Ehemann muss auf Dienstreise, und dann steht auch noch ratlos ein Kumpel der Tochter in der Wohnung. Und so gerät ihre Welt immer mehr in ein stolperndes Rotieren, mit Tagtraummomenten, in denen uralte Verwandte auftauchen um Klatsch und Tratsch aus der Vergangenheit dem Chaos hinzufügen. Aber wie der Schleudergang einer Waschmaschine, stoppt das Rotieren, langsam, stockend kommt die Welt wieder in eine Bahn, in der es sich leben lässt, verändert zwar, aber doch wieder ausgewogen. Eine starke Figur sehr beeindruckend gespielt.
Auch Radu Muntean schafft interessante, starke Frauenfiguren in „Alice T.“ auch wenn die titelgebende Alice ein ausgemachtes Ekelpaket ist. Ein echter Alptraumteenager, sie lügt und brüllt, oder heult, schmeichelt und manipuliert, je nachdem was gerade die besser Methode erscheint sich und ihren Willen ins Zentrum zu setzen. Auch ihre ungewollte Schwangerschaft setzt sie für sich ein, mal als Opfer, mal als coole Frau, die alles kann, Hauptsache die Welt dreht sich um sie. Sensationell das Spiel der jungen Andra Guti, der die ruhigen Bilder, mit wenigen Schnitten, aber einer organisch bewegten Kamera einen perfekten Raum zur vollen Entfaltung bieten.
Nach so vielen guten, coolen, originellen Frauenfiguren geht dann am Abend mit „The Equalizer 2“ von Antoine Fuqua ein echter Samstagabend-Blockbuster mit (Macho) Held auch noch. Für einen Actionfilm gibt es viele lange, sehr ruhige, erzählerische Passagen, die dann immer wieder kurz aber heftig in wilde Action übergehen, gut gemachte Unterhaltung.