
(c) ch.dériaz
Fernes und Nahes
Reisen bildet, zumindest wenn man neugierig genug ist und die Augen öffnet. Wenn man dann von so einer Reise mit offenen Augen Bilder mitbringt, die dann andere neugierig machen, dann ist das um so schöner. Der Dokumentarfilm „Closing Time“ von Nicole Vögele ist ein traumhaftes Beispiel für diese Mischung aus Neugierde, Beobachtungsgabe und Gefühl für’s Erzählen. 2 Stunden lang schaut man gebannt dem nächtlichen Treiben in einem Geschäftsviertel von Taipeh zu, kommentarlos, dafür mit einer spannenden Tonmischung. Kleine Geschäft, Imbissbuden, Strassenverkehr, streuende Hunde, Markthalle, wie in einem langsam fahrenden Karussell fährt der Film die einzelnen Stationen immer wieder an, zeigt mal sehr nah Details, dann wieder einfach, still eine Totale, in der sich der Zuschauer verliert wie in einem Hieronymus Bosch Bild, immer mehr Einzelheiten gibt es zu entdecken. Über die Zeit lernt man so auch die Menschen in ihren Läden kennen, einfach so, durchs anschauen, mit viel Ruhe. Bis der Film gegen Ende dem Koch der Imbissbude ein letztes Mal zum Markt folgt, von wo er aber nicht zurück fährt, sondern plötzlich die Stadt verlässt, Ziel unbekannt, vom Karussell abspringt. Ein toller Film, wenn man sich auf eine Bilderreise einlassen kann.
Auch auf „Tegnap“ von Bálint Kenyeres muss man sich einlassen, und frei von der Suche nach dem Warum der Geschichte bleiben. Ein Bauunternehmer kommt zu einer seiner Baustellen in Marokko, anscheinend weil es dort Probleme mit Genehmigungen gibt, sehr schnell wird klar, Marokko ist für ihn ein Ort aus der Vergangenheit. Die Lösung des Problems mit der Baustelle rückt in den Hintergrund, statt dessen begibt er sich auf die Suche nach einer Frau, die ihn 20 Jahre zuvor dort verlassen hat. Wie einer Fata Morgana taumelt er in der Wüste den verschiedensten Spuren entgegen, wird bestohlen und bedroht, trifft Bekannte aus seiner Vergangenheit, aber nie die Frau, die er immer besessener sucht, Ende offen.
Das Kurzfilm Programm ist für dieses Mal durchweg gut, sogar sehr gut.
„Kaukas“ von Laurynas Bareise erzählt vordergründig von der Suche nach einem kleinen Mädchen, das mit dem Hund der Grossmutter nicht vom Spaziergang zurückgekommen ist. Der darunterliegende Konflikt, die Scham der Grossmutter, eine dunkelhäutige Enkelin zu haben, erschwert die Suche. Bedrückend dank sparsamer, beiläufiger Gesten und Sätze. Auch „Sashleli“ von Davit Pirtskhalava beeindruckt durch das was nicht gezeigt wird, wodurch das Ungesagte, Ungesehene umso stärker wird. Ein Mann stiehlt Holz, um im Zimmer seines kleinen Sohnes für Wärme zu sorgen. Die Konsequent dieser Tat- dass durch diese fehlende Holzabsperrung ein Mitschüler in den Tod stürzt – erzählt der Film in feinen, kleinen Szenen, die von tiefer Traurigkeit aber auch von einer Solidarität der Hausgemeinschaft getragen werden. In „Malo se sjećam tag dana“ von Leon Lučev, geht es um verlorene Erinnerung. Zwei Ereignisse am gleichen Tag zwingen einen Mann sich zu entscheiden, welchen Tag er – für sich, für seine Erinnerung – lebt, den Todestag seines Vaters, von dem er am Telephon erfährt, oder den Geburtstag der 10 jährigen Tochter, eine Entscheidung, die ihn sein ganzes Leben begleiten wird.

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Am Abend auf der Piazza Grande dann leichte Unterhaltung in Form einer italienischen Komödie: „Un nemico che ti vuolo bene“ von Deis Rabaglia. Ein Professor der Astrophysik, mit erweiterter, chaotischer Familie, trifft zufällig auf einen Auftragskiller, dem er, nicht ganz freiwillig, eine Kugel aus dem Körper fischt. Dieser möchte sich dafür mit dem Umbringen eines Feindes bedanken, aber hat der Professor überhaupt Feinde? Viel Komödie, viel Familienstreit, und ein Killer, der so gefährlich dann doch nicht ist, und eindeutig zu viel Musik. Für Freunde der -sehr- leichten Unterhaltung, oder für einen Sonntag Nachmittag auf dem Sofa.
Obsessionen
Familien bleiben ein wesentlicher Hintergrund für Geschichten, Familien sucht man sich nicht aus, Familien bieten wenig Raum für grosse Kompromisse, man ist nicht Teilzeit-Familienmitglied, wodurch auftretende Probleme schnell sehr gross, sehr dramatisch werden, mit oft nur noch sehr wenigen Auswegen. „Glaubenberg“ von Thomas Imbach wirft den Zuschauer von Anfang an in einen Strudel von Gefühlen, mischt Tagträume mit Realität und spaltet diese in ein Heute und ein Gestern, alles von einem fabelhaften Schnitt so organisch zusammengefügt, dass man einfach mitgerissen wird. Lena liebt ihren Bruder Noah, ihre Liebe ist dabei keineswegs geschwisterlicher Natur, und nimmt im Verlauf des Film immer wirrere, obsessive Züge an. Super gespielt, sehr schön gedreht und definitiv genial geschnitten und dazu noch ein sehr schöner Soundtrack.
Auch in „Trote“ von Xacio Baño stehen familiäre Strukturen im Zentrum der Geschichte. Umrahm vom alljährlichen „rapa de bestas“ dem Einfangen der wildlebenden Pferde und kennzeichnen der Fohlen, zeigt die Geschichte, den verkrusteten Alltagstrott, indem sich die Familie befindet. Daran ändert auch nichts, dass die Mutter bei einem Autounfall getötet wird, den die Tochter, möglicherweise verschuldet hat, auch in dieser Familie beherrscht die Sprachlosigkeit, der Mangel an Verständnis den Alltag. Die raue Schönheit des Galizischen Dorfes biete zusätzlich visuelle Dichte. Der Protagonist in „Dead Horse Nebula“ von Tarik Aktas leidet an so etwas wie einem „Totes Pferd Trauma“ nachdem er in seiner Kindheit eines im Strassengraben entdeckt hat. Dieser sowohl komische wie auch absurde Prolog der Geschichte dient, unausgesprochen, als Basis für das Verhalten des Erwachsenen, der so gar nicht in die Rolle des Tiere tötenden Machos passen will. Ein weiterer Film, in dem scheinbar nicht viel passiert, in dem es keine „Message“ gibt, und der doch so schön anzuschauen ist, und im Kopf so viel erzählen kann.

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Aufgeschnappt von einer Zuschauerin:
„ es gewinnen sowieso nie die Filme, die man gut findet“, noch ist es nicht so weit, aber wer weiss, manchmal können Jurys einen doch überraschen.