Locarno 2018 Rituale

 

Schirme statt Fächer

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Plötzlich kommt der Regen, nicht nur Abends oder Nachts, sondern mitten am Tag, und in Sturzbächen.

Eine Regisseurin auf Strandurlaub an der mexikanischen Pazifikküste, aber nach drei Tagen wird ihr das Strandleben zu langweilig, nein, das is nicht die Geschichte die erzählt wird, sondern ihr Ursprung. Aus dieser Langeweile entstand “Fausto“ von Andrea Bussmann, gedreht in und um eine Bucht in Mexiko. Mit Goethes Faust vage im Hinterkopf und einer Reihe von seltsamen Sagen und Mythen, die sich um den Ort ranken, mischt sie reale und fiktive Geschichten, lässt sie von anderen Urlaubern in die Kamera erzählen, als hätten sie diese Geheimnisse aus grauer Vorzeit herübergerettet. Dazu ein Off- Erzähler, der der Ort selbst zu sein scheint, und Bilder deren Verfremdung auch dadurch zustande kommen, dass zunächst digital, und bei teils wenig Licht, gedreht

wurde, und dieses Material dann auf 16 mm vom Computerbildschirm abgefilmt wurde. Ein seltsames Stück Poesie ist daraus geworden, von dem man nicht behaupten kann etwas verstanden zu haben, dass aber dennoch seinen Reiz hat.

Gangbyun Hotel“ von HONG Sangsoo ist vielleicht kulturell zu weit weg um decodiert zu werden. Vielleicht ist der Film aber auch schlicht nicht jedermanns Sache. Die Schwarz-Weiss Bilder sind, jedes für sich genommen, durchaus reizvoll, aber die darin agierenden, oder besser: hauptsächlich redenden, Figuren machen es zusehends schwer dem Film wohlwollend zu folgen. Zu belanglos scheinen die Dialoge, die ein alter Dichter mit seinen Söhnen, diese untereinander, oder eine junge Frau mit einer Freundin, führen. Die Wege der beiden Gruppen, kreuzen sich mal hier, mal dort in einem sonst leeren Hotel, und am Ende gibt es einen Toten. Schwierig.

Ein fast verlassener Kibbuz im Norden Israels, drei Brüder, und die verspätete Beerdigung des Vater, das ist die Ausgangslage in „Hatzlila“ von Yona Rozenkier. Kriegstraumata, Ängste, Schuldzuweisungen und allgegenwärtig der mögliche Tod im Kampfeinsatz, und obendrauf, als wäre das alles nicht schon schwer genug zu (er)tragen, Männlichkeitsrituale. Kein Wunder also, dass es zwischen den drei ungleichen Brüdern zu immer harscheren Streitereien kommt. Und selbst die wenigen Auswege, die es gibt, müssen mühsam erkämpft werden.

Es gilt noch ein Kurzfilmprogramm nachzuliefern:

Ellen Hertzler hat ein Jahr lang alle Spammails gesammelt und macht daraus in „Hi I need to be loved“ einen extrem witzigen Film. Zunächst sieht man das Casting von Schauspielern, die einzelne Passagen aus den Spammails vorlesen, die drei Ausgewählten führen diese Spammail-Texte dann in jeweils passender Szenerie auf, mal lakonisch, mal herzzerreissend, mal obszön.

Lunar-Orbit Rendezvous“ von Mélanie Charbonneau ist eine kleine, wunderhübsche und lustige Liebesgeschichte. Ein als Astronaut verkleideter Student fährt mit der Asche seiner Mutter an einen See, eine junge Frau schliesst sich ihm an, geht auf seine absurden Geschichten von Raumfahrt und Wunscherfüllung ein. Und auch wenn am Ende der See gefroren ist, finden beide eine Lösung dem Wunsch der Mutter zu entsprechen und dabei auch noch eine hoch romantische Nacht zu erleben.

Man muss „Smert menya“ von Mikhail Maksimov nicht verstehen, um von diesem Film hingerissen zu sein. Realbilder und darüber gelegte videospielartige Animationen ergeben eine rasante, verträumte Geschichte, die einfach Freude macht. Im Katalog ist nachzulesen, dass in allegorischen Bildern von der Ermordung eines orthodoxen Priester in den 1990ger Jahren berichtet wird.

Auf Grund des Wetters, sicherheitshalber die Piazza Filme dann doch lieber im regengeschützeten Fevi anschauen, immerhin gibt es am Abend zwei Filme. Zuerst eine weitere italienische, mehr oder weniger romantische, Komödie, „L’Ospite“ von Duccio Chiarini. Für Guido bricht eine sichergeglaubte Welt zusammen als seine Freundin ihm eröffnet „Zeit für sich“ zu brauchen. Und so zieht er von Sofa zu Gästebett, bei Eltern, Freunden und Kollegen, und muss mit Erstaunen feststellen, dass es in allen Beziehungen irgendwie hakt und knirscht. Einige lustige Momente und zum Glück kein zuckeriges Happy End.

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Der bisher sensationellste Film fängt dann gegen Mitternacht an „ Ruben Brandt, Collector“ von Milorad Kristić. Ein Animationsfilm, der alle Genregrenzen umwirft, Actionfilm, Gentelman-Gauner-Komödie, Film Noir, Spionage- und Agentenfilm, dazu soviele Referenzen an Filme, Bilder und geschichtliche Fakten, dass man den Film sehr viel öfter sehen muss, um sie alle zu finden. Gekonnt wird mit Codes und Chiffren gespielt, und dabei entsteht nicht etwa eine Kette von Zitaten für Nerds, sondern ein eigenständiges, brillantes Gesamtkunstwerk. Schlicht: atemberaubend.

 

 

Sperriges

 

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Auch die dritte Vorstellung von „Alles ist gut“ von Eva Trobisch findet vor vollen Zuschauerrängen statt, echter Enthusiasmus kam nicht auf. Eine Frau, die sich nicht wehrt, nicht wenn im Restaurant das falsche Essen kommt, und auch nicht, als ein Betrunkener Bekannter sie vergewaltigt. Sie erträgt was ihr widerfährt, fast möchte man meinen sie sitzt es aus, alles ist gut. Dabei gibt sie anderen sehr wohl Ratschläge wie sie sich wehren können oder sollen, übernimmt sogar für sie die Initiative, nur bei sich selber verharrt sie in dieser seltsamen Starre, unbeweglich, abwartend. Als sie dann doch endlich für sich selbst zu handeln beginnt, ist ihr bisheriges Leben bereits in Trümmern, und ihre Reaktion schiesst über’s Ziel hinaus. Nicht ganz überzeugend, aber auch hier wieder eine differenzierte Frauenfigur.

Ärgerlich hingegen ist „Wintermärchen“ von Jan Bonny. Der Film banalisiert auf unangenehme Weise Rechtsterrorismus, indem er dessen Ursachen auf sexuelle Frustrationen und fundamentale Langeweile am Leben reduziert. Die Gruppe aus zwei Männern und einer Frau, deren Leben sich um, vögeln, schiessen und saufen dreht, gefilmt in extrem unruhigen Bildern und das alles auf 125 Minuten gezogen verschenkt ein Thema, das man auch in Spielfilmen zeigen sollte, aber nicht indem man es auf so wenige Komponenten reduziert, und dabei Hinweise verteilt, mit denen an den NSU verwiesen wird. Das ergibt keinen politischen Film, sondern eine ungute Verharmlosung realer Taten.

Der südafrikanische Film „Siyabonga“ von Joshua Magor hat einige recht sperrige Passagen, aber auch viele Interessante Seiten. Erzählt wird, wie ein Schauspieler aus einer Township vom bevorstehenden Filmdreh eines englischen Teams hört, und sich auf den extrem mühsamen Weg in die nur 16km entfernte Stadt macht, um dort den Regisseur zu treffen. Ausser einige Längen ist dabei eine seltsam anrührende Reisegeschichte entstanden, an deren Ende eventuell neue Perspektiven für den jungen Schauspieler stehen.

Der vorletzte Abend auf der Piazza bringt eine epische Geschichte aus dem Kolumbien der 1970ger Jahre: „Pájaros de Verano“ von Cristina Gallego und Ciro Guerra. In sechs Kapiteln wird der Einstieg eines Wayuu Clans im Norden des Landes in die Anfänge des Drogengeschäft gezeigt. Anfangs noch extrem traditionsverbunden, entfernen sich einzelne Mitglieder der Familie im Verlauf immer mehr von ihrem alten Sozialgefüge. Der Reichtum, von dem zunächst alle profitieren erweist sich als tückisch und zerstörerisch, Mord und Vernichtung nehmen immer schärfer Formen an, bis von der Familie nur noch ein einzelnes, von allen Traditionen abgeschnittenes, Mädchen übrig bleibt. Das Prequel zu allen Drogenkartellfilmen, die man so kennt, nannte die dänische Co-Produzentin den Film, auf jeden Fall tolle Bilder, interessante Darsteller, sowohl Laien als auch Profis, und ein angenehmer Erzähfluss. Wobei auch an diesem Abend die grosse Begeisterung von Seiten der Zuschauer ausblieb.

Wer dann welche Preise bekommen hat, wird sich morgen zeigen.

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