Das Ich und der Rest der Welt – vom Erinnern

(c) ch.dériaz
Und dann ist über Nacht der Schnee gekommen, erst zart und hübsch und dann nass und dicht, die Hoffnung auf Sonne von der Leinwand wird erstmal nicht erfüllt.
“Gens du Lac“ von Jean Marie Straub, muss man das mögen? Ein Text vorgelesen, wie für ein Diktat in der Grundschule, überdeutlich, ohne Rhythmus, dazu statische Bilder, oder gar nur eine schwarze Leinwand, um kurz nach neun am Morgen ist das schwer zu mögen. „La séparation des traces“ von Francis Reusser, taucht ein in Vergangenes, holt die persönliche Lebens-und Filmgeschichte hervor, anhand von Filmausschnitten, dazu Bildern einer Reise zurück, durchs Heute, ein bisschen melancholisch, ziemlich eitle, kokettierend mit dem Verfall und der eigenen Wichtigkeit; kann man mögen, oder auch einfach nur hinnehmen, als ein Film, der anderen vielleicht etwas bedeutet.

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Ein wichtiger, ein toller Film, einer, der sich Zeit nimmt, ein Problem zu zeigen, zu betrachten, zu analysieren und auch ins Gewissen zu reden: „Eldorado“ von Markus Imhoof. Seine persönliche Geschichte mit dem Flüchtlingsmädchen Giovanna, das seine Eltern während des 2. Weltkriegs aufnahmen, und die, der Krieg kaum vorbei, ins zerstörte Italien zurückgeschickt werden musste, umrahmt Imhoofs Betrachtung zu heutige Fluchtgeschichten. Er dreht auf einem Boot der italienischen Marine, das Flüchtlinge aus dem Mittelmeer fischt, verarztet, erstversorgt, und doch nichts weiter tun kann. Zeigt wie illegale Flüchtlinge in Italien in mafiösen Strukturen versklavt werden, wie ihre unterbezahlte Arbeit letztlich in ihren Heimatländern für noch mehr Fluchtgründe sorgen. Erzählt von Flüchtlingen, die in der Altenpflege arbeiten, aber zurück müssen, ohne Asylstatus, während an Robotern gearbeitet wird, die in der Pflege den Mangel an Helfern ausgleichen sollen. Sachlich und organisiert zeigt er das alles, in Bildern die Zeugnis ablegen, die auch dann schöne, gute Bilder sind, wenn man fast nicht hinschauen möchte. Ein grosser Kinodokumentarfilm, der sein Thema von allen Seiten zeigt, und doch auch einen persönlichen roten Faden behält. Imhoff bekam dafür letzte Woche den Bayerischen Filmpreis.
Film als Ausdrucksmittel für Privates, für Geschichten, die jeder mit sich herumträgt, auch dies eine Art gemeinsamer Nenner in diesem Jahr. Auch „Les sœrs“ von Peter Entell spricht von Privatem, davon, wie sich zwei Schwestern Jahrzehnte nachdem sie durch Adoption getrennt wurden, wiederfinden. Eine Geschichte direkt vor seiner Kamera, ist doch die eine Schwester die Kindheitsfreundin seiner Frau. Die Geschichte ist berührend, als Zuschauer fühlt man sich den drei Frauen Nahe, trotzdem ist der Film bildlich,filmisch, eine Enttäuschung, das ist schade.

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Mit kleinem Budget und ohne weitere Förderung hat Hans Kaufman „Der Büezer“ realisiert. Die Geschichte eines lieben Kerls, der eigentlich nur gern ein bisschen mehr Geld und eine nette Freundin hätte. Aber auf dem Bau, wo er als Installateur arbeitet herrscht ein rauher, sexistischer Umgangston, beim Versuch eines Dates per Tinder verschwindet die Dame, nachdem sie gehört hat, dass er nur ein einfacher Arbeiter ist. Eine junge Frau, die er zufällig trifft, entpuppt sich als Mitglied einer religiösen Gruppe, und der Väterliche Freund als Zuhälter minderjähriger Migrantinnen. Nach der Verzweiflung folgt die Wut, und die bricht sich in bester Taxi Driver Manier ihren Weg. Spannend ist das vor allem wegen des Spiels von Joel Basman, der von zart, schüchtern und zurückhaltend zum „Tier“ mutiert, um dann in eine Art leuchtende Ruhe zurückzufinden. Und nach der Vorstellung animierte er dann noch den gesamten Saal, dem Regisseur ein Geburtstagslied zu singen.
Verwandeln und Verändern
Wer hat bloss erfunden, Dokumentarfilme, besonders welche mit Naturaufnahmen, mit Monumentalmusik zu übergiessen, wie eine Torte mit Zuckerguss? Ein grosser Teil der Freude an Christian Freis „Genesis 2.0“ geht in solcher Musik unter. Dabei hat der Film alles, um sogar komplett ohne Musik auszukommen, grossartige Aufnahmen im sibirischen Polarmeer, bei der Beobachtung der Mammutstosszahnjäger, Landschaft, Gesichter, Details, alles ein echte Augenweide. Parallel dazu erzählte er von von Hochtechnologie und Molekularbiologie und Forschung. Verbunden sind beide Ebenen durch den Fund eines intakten Mammuts vor einigen Jahren, und dem daraus resultierenden Wunsch, das Mammut in der Petrischale neu zu erschaffen. Eine archaische, lebensfeindliche Welt, und eine ethisch nicht immer verantwortungsvolle Welt, da die Suche nach dem Auskommen der Nordsibirischen Jäger, hier das grosse Geld in Koreanischen, Chinesischen aber auch Amerikanischen Labors. Schlecht möchte einem werden, wenn die Chinesische PR Dame stolz erklärt, dass durch die Recherchen in ihrem Labor, die Geburten von Kindern mit Down Syndrom verhindert werden können, aber auch das Missverhältnis zwischen dem Verdienst der Stosszahnjäger und dem Preis für aus diesem Elfenbein erzeugten Objekten ist haarsträuben. Arbeit 2.0 und Wirtschaft 2.0 gehorchen mehr denn je nur der Gewinnmaximierung. Wäre alles toll, wenn dieses furchtbare Musiksosse nicht wäre!.

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Vier Damen, zwischen Mitte 60 und Mitte 70, aktiv, lebensbejahend, aber entweder geschieden oder verwitwet, das sind die Protagonistinnen in „Les Dames“ von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Alle sind sie auf die eine oder andere Art in einer Aufbruchphase, auf der Suche nach dem was das Leben noch zu bieten hat, nicht gewillt sich auf den Schrotthaufen zwischenmenschlicher Beziehungen werfen zu lassen. Im Verlauf des Films werden sie auf verschiedenste Art fündig, die eine macht Frieden mit sich, die andere findet eine Liebe ungeahnter Qualität, alle sind am Ende ein Stück weiter in der immerwährenden Entwicklung des Ichs gekommen; das ist schön zu beobachten.
Von einem extrem gestörtem und verstörendem Mutter-Tochter Verhältnis erzählt „Sashinka“ von Kristina Wagenbauer. Die Mutter säuft und spielt, und kompensiert den Mangel in ihrer Beziehung zur Tochter mit überbordender und künstlicher Fröhlichkeit, die Tochter hat wohl schon lange versucht sich fern der Mutter ein eigenes Leben zu schaffen, versteckt aber in einer massiven Essstörung die dysfunktionale Beziehung. In den 24 Stunden, die der Film zeigt schaukeln sich Emotionen, Ablehnung und Zuneigung hoch um gleich wieder tief zu fallen, und man schätzt sich glücklich keine solche Familie zu haben. Toll gespielt von beiden Darstellerinnen.
In „Zauberer“ von Sebastian Brauneis sind eigentlich alle Figuren komplett gestört, die Geschichte verbindet lose diverse Personen, ihre Schicksale kreuzen sich, oder laufen, zumindest kurzzeitig, im selben geographischen Raum parallel. Der Film ist extrem künstlich, überspitzt mit eigentümlich hohl klingendem Ton (was eventuell an der Vorführung liegen könnte) und teils unterschwellig, teils offensichtlich grausam und brutal, insgesamt ein eher wirrer Film, den einige Zuschauer auch während der Vorstellung verlassen haben.

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Noch ein Festivaltag, schwer zu sagen welcher Film wirklich preiswürdig ist, zumal für den Prix de Soleure zum Beispiel nur 9 Filme nominiert sind.