Durch die Luft fliegender Würfelzucker, optische Illusionen, Mushrooms, die in den Münchner Himmel wachsen und sich als gigantische Windräder entpuppen – der diesjährige Filmfesttrailer ist eine einzige Inszenierung von „Don Quijote auf Koks“. Wir freuen uns auf bewusstseinserweiternde, hypnotisierende und halluzinogene Filme. Notfalls setzten wir die Sonnenbrille auf und schauen uns die Welt schön.
Archiv des Autors: dunjabialas
Ende einer Ära
Über 10 Jahre „meine“ Viennale, fast 20 Jahre Hurch – über allmähliche Ermüdungserscheinungen
Um einem Missverständnis vorzukommen: die Viennale ist ein ganz großartiges Festival. Wenn jetzt im folgenden von Ermüdung & Müdigkeit die Rede sein wird, dann geschieht dies als Meckern auf ganz, ganz hohem Niveau. Dennoch: in meinem 14. Viennale-Jahr kann ich sagen, dass Wien zwar schön ist, aber noch viel schöner sein könnte, wenn die Viennale nicht selbst allmählich in Müdigkeit erschlaffen würde. Am nahenden Ende der Ära Hurch ist dies auch legitim. Neu erfinden, oder gar der alten Dame eine Verjüngungskur verpassen, das wird ab 2019 die Nachfolge bewerkstelligen.
Die Viennale ist ein Lumpensammlerfestival, ein Kehrwagenfestival, und das ist ja auch sehr super für ein Publikumsfestival, für alle Wienerinnen und Wiener. Auch ich freue mich immer sehr auf die Viennale und darauf, endlich all diese Cannes-Filme zu sehen: die Rumänen, den neuen Assayas und die Filme aus Venedig. Das erspart mir andere Reisen. Aber das ist so etwas, wie den guilty pleasures frönen, wie blau machen, Ferien machen. Vielleicht lag es einfach an diesem Jahrgang, dass ich einfach schon unglaublich viele Filme des Programms kannte, es liegt auch ein wenig an Österreich, wo die großen Filme nochmals später als bei uns in Deutschland ins Kino kommen. Ich will jetzt gar nicht aufzählen, was wann und wo schon zu sehen war (viele Filme allerdings waren sogar aus dem letzten Frühjahr darunter, wie Beispielsweise der iranische HOMELAND von Abbas Fahdel, der in Nyon 2015 den Hauptpreis gewonnen hatte – wieso wurde der nicht im letzten Jahr gezeigt?). Das Programm machte insgesamt einen nicht mehr ganz frischen Eindruck.
Sehr weh getan hat so manche Filmplatzierung. Klar kann nicht jeder Film am Nachmittag oder in der Prime Time laufen. Aber warum, bitte schön, so langsame Filme wie die algerische, äußerst poetische Schlachthofdokumentation DANS MA TÊTE UN ROND POINT von Hassen Ferhani, oder den italienischen Wildschwein-Film IL SOLENGO von Alessio Rigo de Righi und Matteo Zoppis auf 23:30 Uhr programmieren? Ich habe mich tapfer wachgehalten, nur der Regisseur tat mir leid. Oder der österreichische THE LOOKERS von Peter Miller, ein Film über das Sehen und Betrachten: der auch um 23:30 Uhr begann. Da bin ich dann nicht mehr hingegangen. Katy Grannans THE NINE über drogenabhängige Prostituierte im Hinterland der USA, eine Verlängerung von Andrea Arnolds AMERICAN HONEY in das dokumentierte Elend hinein, begann erstaunlicherweise schon um 21 Uhr.
Und: Oh du, mein lieber kleiner Pleskow-Saal! Immer ausverkauft! Keine Chance, eine Karte zu bekommen! Wie gerne hätte ich den Douglas Gordon gesehen. Jetzt ist meine Fantasie gefragt und ich kann mir den Film ausmalen. Was in diesem Fall wohl nicht so schlimm ist. Denn I HAD NOWHERE TO GO liest sich einfach großartig folgendermaßen: „Ein Film für die Ohren. Die Bilder entstehen im Kopf. Meist bleibt die Leinwand schwarz, während Jonas Mekas schildert, wie er 1944 vor dem Vormarsch der Russen aus seiner Heimat Litauen flüchtete. Ein erschütternder Nichtfilm.“ Douglas Gorden, der visuelle Künstler, mit einem bilderlosen Nichtfilm! Selber schuld, wenn ich auf so ein Kino stehe… Kaum zu glauben, dass ich keine Karte mehr ergattern konnte. Das wiederum spricht natürlich fürs Viennale-Publikum.
Und liebe Viennale, wieso denn gar so lieblos? Was für eine tolle Hommage du da im Programm hattest: Peter Hutton! !!! Und dann: Nichts. Keine Einführung, keine Würdigung, keine Filmerzählungen. Natürlich ist das nackte Kino, der nackte Film immer auch toll, für sich selbst sprechend. Peter Hutton aber war einer, der immer mit seinen Filmen mitgereist ist, sie nie allein gelassen hat. Und jetzt sind sie verwaist, werden sogar von denen sich selbst überlassen, die sie eigentlich pflegen wollten. Oder wurde das Cinema pur, das stumme Kino des Hutton als implizite Anweisung genommen, nicht darüber zu sprechen, kein Fremd-Wort über das pure Bild zu legen, über diese wundervollen Studien über das Meer und die Natur und das Sehen?
Und noch was. Wien, das ist doch der Dreh- und Angelpunkt zwischen West- und Osteuropa, oder nicht? Ehemals k.u.k., näher als die anderen Länder dran am Balkan, in direkter Tuchfühlung zu Tschechien, zur Slowakei, Ungarn, Slowenien und unwesentlich weiter entfernt von Serbien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, ja auch Rumänien. Wo sind denn die Filme aus den Balkan-Ländern? Wo sind denn die Nicht-Cannes-Rumänen? Vielleicht war’s auch einfach nur ein mauer Jahrgang, das kann natürlich sein.
Nach Wien fahren ist natürlich immer super, und die Viennale auch. Die vielen netten Kollgen, die man so trifft, eine zweite Heimat ist das geworden, über die Jahre hinweg. Eine behutsame Restaurierung der eingetretenen Pfade könnte aber nicht schaden.
Die Revolution findet doch nicht statt
Zweiter Viennale-Tag: Betrand Bonellos NOCUTURAMA und Francesco Munzis ASSALTO AL CIELO
Wien pennt
Donnerstag Nacht, Viennale Zentrale. Okay, wir sind spät dran, es geht auf halb zwei zu. Für die Viennale aber doch keine Uhrzeit, oder? Als wir uns dem Eingangstor der alten Post in der Dominikanerbastei nähern, kommt ein junger Mann raus. „Geht da bloß nicht rein, da ist nix los!“ Wir stoßen die Tür auf. Ein nackter, unwirtlicher Saal, eine einsame DJane. An einem Tisch doch tatsächlich ein Pärchen. Grelle, viel zu laute Töne aus den Lautsprecherboxen. Ein Saalordner eilt auf uns zu: „Wir schließen gleich.“ Wir bekommen noch ein 0,3-Wegebier für 3 Euro 90.
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Das war’s wohl mit dem Festivalzentrum (es sei denn, Festivalleiter Hans Hurch legt wieder mal persönlich auf). Ein heikles Thema bei den größeren Festivals, kaum einer bekommt einen guten Treffpunkt hin. Oft wird dies auch falsch verstanden, wie bei der Viennale. Laute Musik, schummriges Licht und kaum Sitzgelegenheiten braucht man nicht nach einem Arbeitstag im Kino. Schön war’s einst im Badeschiff, mit heller Beleuchtung, großen Tischen fernab der Musik, an denen man sich zusammenrotten konnte, und jeder musste an einem vorbei. Die Jahre, da wir die meisten Filmemacher und neue Kollegen kennenlernten.
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Paris brennt
Muss Revolution eigentlich immer blutig sein? Müssen politische Kämpfe immer scheitern? Ist terroristischer Akt denn immer sinnlos? Was und wie dachte man doch gleich in den 70er Jahren darüber?
Bertrand Bonello ist ein Liebling meiner Kritikerkollegen. Sie schätzen sein „ausgeprägtes Gespür für das Schöne“ und seine Bereitschaft zur Oberflächlichkeit (zuletzt: SAINT LAURENT). Jetzt hat er mit NOCUTRAMA einen Oberflächenfilm über eine Gruppe Jugendlicher gemacht, die einen konzertierten Bombenanschlag auf Paris ausführt (inklusive der zweifelhaften Zweitverbrennung der Jeanne d’Arc, der von allen möglichen Gruppierungen vereinnahmten Symbolfigur Frankreichs). Anschließend verstecken sie sich in einem Luxus-Kaufhaus, um am nächsten Tag wieder nach Hause gehen zu wollen, wenn sich die größte Aufregung gelegt hat. Hanebüchener Plot eines Films, der sich ziemlich gut anlässt, mit schnellen Schnitten, und einem Thrill, der aus raschen Blick- und Metrowechseln und Detailaufnahmen auf Hände und Handys à la Bresson erwächst. Ein diffuses Ensemble aus lose zusammenhängenden Figuren, die eine gemeinsame Sache machen. Soweit ist alles klar. Und tolles Genrekino.
Eine völlig überflüssige Rückblende durchbricht dann den aus sich selbst heraus wachsenden Film: Wir erfahren, wer diese Jugendlichen sind, ihren sozialen Status, und wie sie sich kennengelernt haben. Motivation für den aufwendigen Bombenanschlag sollen Langeweile und soziale Randständigkeit sein, wird suggeriert. Oder vielleicht ist bei denen was im Kopf nicht in Ordnung? So lässt Bertrand Bonello zumindest denjenigen aus der Gruppe zweifeln, dem eine tolle Karriere bevorsteht, mit Studium an der französischen Elite-Uni ENS und Praktikum beim Innenminister. Letzteren haben sie jetzt in die Luft gejagt, und – oh Schreck – er wurde ernsthaft verletzt.
Gerne kann man die gute Portion Naivität als Portrait einer orientierungslosen Jugend betrachten, der Film insgesamt aber ist durchzogen von Gedankenlosigkeit. Unabhängig davon, dass erst nach dem Pariser Anschlag auf Charlie Hebdo (Januar 2015) mit den Dreharbeiten begonnen wurde und vor den konzertierten Anschlägen im November 2015 schon der Rohschnitt stand, wie Bonello erzählt (als hätten zu keinem Zeitpunkt diese Ereignisse Einfluss auf die Gestalt des Films haben können), gab es auch schon vor 2015 gewalttätige Sabotage- oder Terrorakte, die nicht (nur) negativ geprägt waren: FLN, RAF, IRA, ETA. Revolutionen, wo seid ihr geblieben? Und wirklich, keinerlei Anspielungen auf die Ängste und Wünsche der heutigen Jugend? Eigentlich wollte Bonello seinen Film PARIS EST UNE FÊTE nennen, zurückgehend auf Hemingways Erzählung „A Moveable Feast“. Da die Erzählung aber zum Symbol wurde, nach den Paris-Attentaten sich nicht das savoir vivre verderben zu lassen, nahm er davon Abstand. Das wäre dann doch zweifelhaft geworden: Paris als Stadt der abgefeierten Attentate zu inszenieren.
Die Oberfläche bei Bonello ist der Verzicht auf Erklärungen – und das ist ja erst mal gut. Mit der Wahl des äußerst seltsamen und unwahrscheinlichen Rückzugsort („ich liebe Unwahrscheinlichkeiten“, so Bonello), dem exponierten Luxus-Kaufhaus, wo erst einmal die vier Security-Leute erschossen werden, damit die jungen Erwachsenen ungestört im Kaufhaus Party machen können, macht die inszenierte Sinnlosigkeit von terroristischen Akten oder zumindest Aktionen einer leidlichen Didaktik Platz. Seht her, die Jugend, die mal was wollte, verfällt den bürgerlichen Luxus-Emblemen und den bourgeoisen Werten! Die fette Stereoanlage, die coolen Klamotten, der Hochzeitsanzug und Verlobungsring, die Badewanne, das bürgerliche Mahl mit Rotwein und Käse aus der Feinkostabteilung (ein Obdachlosenpaar wird, als Reminiszenz an Bunuels VIRIDIANA oder als leerer Charity-Akt, dazugeholt), alles wird jetzt groß ins Bild gerückt – als real existierender Warenfetisch. Nebenbei findet auch viel Product-Placement statt, bis das Kaufhaus gestürmt wird. Aber vielleicht geht es ja darum in Zukunft in den westlichen Gesellschaften: um den Konsum und die kapitalistischen Werte, ganz anders, als wir es bislang von der Revolte der Jugend kennen. Waren für alle! – Das ist am Ende denunziatorisch und zynisch gegenüber einer Jugend, die nicht nur in Frankreich bitter gegen den sozialen Abstieg und die Arbeitslosigkeit kämpft.
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Wir wollen alles, und zwar sofort
Erholung von der Oberfläche dann bei ASSALTO AL CIELO (dt. etwa: ANGRIFF AUF DEN HIMMEL). Francesco Munzi hat Archivmaterial zusammengetragen. Das Spannende ist das Material selbst, über Italien zwischen 1967 und 1976 (bis zur Wahl Giulio Andreottis zum Ministerpräsidenten), in denen sich Arbeiter, Studenten und Schüler zu einer revolutionären Bewegung zusammenschlossen, die das Ende der kapitalistischen Arbeiterausbeutung und die Gesellschaft aus ihrer behaglichen Konsumverfallenheit aufrütteln wollten. Symbol dafür ist das Fließband und die Unterwerfung des arbeitenden Menschen unter die unerbittlichen Mechanismen des Kapitals.“Wir wollen alles, und zwar subito!“, hieß damals, leicht selbstironisch, der Spontiruf.
Daneben formierten sich die Neofaschisten mit Bombenattentaten auf Rom und Bologna und linksradikale Gruppen wie die legale Lotta Continua oder die terroristische Brigate Rosse, die als Stadtguerilla agierten, Attentate verübten und Politiker entführten. Es wurde zu einem Kampf rechts gegen links, in dem Attentate der Rechten den Linken untergejubelt wurden. Es waren Anni di piombo, bleierne Jahre, in denen als Protestakte auch einfach mal Möbel aus den Büroräumen der Unternehmen geworfen wurden.
Francesco Munzis Montage ist unerklärend, undidaktisch, zeigt die Vielfalt der politischen Ereignisse und revolutionären Aufstände. Er montiert paradigmatisch, also innerhalb vorgefundener Themen- oder Bildfelder, verdichtet die Ereignisse jenseits ihrer Chronologie. Ein verhalten analytischer Sprung erwächst daraus, verstärkt durch die Reduktion der Bilder auf ihren Materialwert, der durch unterlegte Musik emotionale Färbung bekommt. Vage erinnert mich das an Marta Popivodas YUGOSLAVIA – HOW IDEOLOGY MOVED OUR COLLECTIVE BODY.Wie die bleiernen Jahre ausgingen? Es kam heraus, dass der Kampf von rechts gegen links gezielt vom Staat gelenkt wurde, um die Kommuisten zu schwächen. Die Hippie-Ära mit Gras & Peace & Sex für alle (nach Meinung mancher Linken eine bewusst gesteuerte Depolitisierung und Zersetzung der 68er-Bewegung) setzte dem politischen Kampf ein jähes Ende. Man genügte sich selbst, außerdem ging es der Lira schlecht. Zurück zur Arbeit.Die Revolution machen wir dann später.
Bis die Nacht die Menschen verschluckt
Erster Viennale-Tag: THE WOMAN WHO LEFT
Intro
Vorgestern trafen wir uns im kleinen Kreis der Redaktion, um Details über den bevorstehenden Relaunch von artechock zu diskutieren (ja, liebe Leser, Ihr habt richtig gelesen). Wir wollen alle Texte leichter auffindbar und die Arbeit, die wir hier Woche für Woche leisten, dadurch „haltbarer“ machen. Zukünftig werden neben dem Kinoprogramm und den Kritiken auch unsere Essays, Kolumnen und Interviews direkt ansteuerbar sein, ebenso wie unsere Festival- und Kinospecials. Und der Blog: wird ebenfalls in die Seite integriert, so dass man sich dann nicht mehr in schizoider Weise entscheiden muss: artechock oder arteblog? Der Arbeitstitel für den Blog lautet übrigens: „schnelle Texte“. Und ebensolche schnell verfassten, ja geradezu hingerotzten Texte werden mein Kollege Rüdiger Suchsland und meine Wenigkeit in den nächsten Tagen von der Viennale schreiben.
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Zum Auftakt: Lav Diaz
Zugegeben: Es hatte mich schon ein wenig bis sehr geärgert, was mein Kollege über den Film von Lav Diaz geschrieben hatte, den er bereits in Venedig sehen konnte. Meine Replik jedoch blieb aus, gelinde gesagt: aus Zeitmangel, da ich mein eigenes Festival UNDERDOX vorbereitete. Dort zeigten wir zwar nicht den Gewinnerfilm des Goldenen Löwen, jedoch den Lav-Diaz-Alfred-Bauer-Preisträger der Berlinale 2016, das achtstündige, und wie ich finde, meisterlich epische und sogentwickelnde LULLABY TO THE SORROWFUL MYSTERY , der sich bei unserem Festival dann leider als Flop an der Kinokasse erwies. „Die Münchner sind anscheinend schwer zu mobilisieren“, sagte mir einer unserer internationalen Besucher. (Wieder mal: Der unheilvolle Ruf der Stadt …, der sich nun weiter verbreiten wird, in diesem Fall nach Paris. Siehe auch die derzeitige, hitzig geführte Debatte, die die Leute von Monokultur München losgestreten haben.) Oder hat Rüdiger mit seinem – in meinen Augen – pamphletartigen Pauschalverriss des Kinos von Lav Diaz („mit einfachsten Mitteln, zum Teil mit Laien gedreht und in Schwarzweiß“) das von artechock informierte Münchner Kinopublikum vom Besuch des Films abgehalten?
Das Wiener Publikum ist jedenfalls entdeckungsfreudiger als die eingeschlafenen Münchner (ah! vielleicht war’s auch der Matineentermin?), wie dieses Beweisfoto vor Beginn des Films THE WOMAN WHO LEFT zeigt:
Und dann begann der Film
„ANG BABAENG HUMAYO“ ergießt sich der Titel in großen Lettern über die Leinwand, „THE WOMAN WHO LEFT“. Schwarzweiß, klar, von dieser etwas schlierigen Sorte, wie es das digitale Kino hervorbringt. Lav Diaz aber ist ein Spezialist dafür, die Weißtöne hell leuchten zu lassen, sich nicht zu scheuen, bisweilen ein wenig überzubelichten, das Schwarz dunkelschwarz die Figuren verschlucken und nur ihre Augen leuchten zu lassen, in dann sich ergebender unbändiger Konzentration, wie es auch Pedro Costa vermag. Eine Frauengruppe, aus der Distanz einer Totalen gefilmt. Es wird geredet, in diesem unvergleichlichen Singsang des Tagalog. Tableaux der Arbeit auf dem Feld, der Zusammenkünfte auf einer Terrasse, in einem Schlafsaal, mein Auge gleitet über die vielen Frauen, alte, junge, Mädchen, und sieht am Bildrand dann: Männer, die mit Maschinengewehren das Tun der Frauen be- oder überwachen. Klar, Gefängnis, rufe ich mir in Erinnerung aus dem, was ich bislang über den Film gelesen hatte (aber wenige Zeit später wird dies der Film selbst explizit machen), die Bilder formulieren für das europäische Auge wenig „Typisches“. Alles erscheint eher idyllisch, nur langsam und allmählich, durch halbtotale Einstellungen, schält sich eine Figur aus der Gruppe, die zukünftige Protagonistin des Films.
Langsam und allmählich
Langsam und allmählich: das ist genau die Qualität des Kinos von Lav Diaz, neuerdings dann doch mit dem Label „Slow Cinema“ versehen. Aber was heißt das eigentlich: slow, außer, dass es der Zuschauer mit exorbitanten Spielfilmlängen zu tun bekommt – die by the way aber auch nicht länger sind als eine Binge-Session mit der persönlichen Lieblingsserie (das wäre dann schon gleich das nächste Stichwort: wie Lav Diaz die Dramaturgie anlegt, ähnlich einer groß angelegten Serie, in der sich die Erzählstränge abwechseln, ohne je abgeschlossen zu sein). Diaz entwickelt seine Geschichten langsam und allmählich, erzählt nicht explizit im „ich sage Euch jetzt mal, was hier abgeht“-Stil eines auktorialen Besserwissers, sondern implizit, durch die Beschreibung der Szenen durch ihre schiere Bildlichkeit, feine Texturen von Geschichtsmöglichkeiten webend, aus denen sich ein Faden löst, der sich zu einem Erzählstrang mit einer Hauptfigur ausbildet – oder ausbilden kann. Manche Fäden werden auch fallen gelassen. Tastendes Suchen eines wie in die Erzählung eingebetteten Beschreibers oder Chronisten, der in der präsentischen Gleichzeitigkeit formuliert, ohne zu wissen, wohin die Reise geht.
Das ist natürlich alles Bluff, selbstverständlich weiß Lav Diaz, wohin die Reise gehen soll. Er ist, so kann getrost gesagt werden, der Moralist unter den gegenwärtigen philippinischen Filmemachern (neben Khavn de la Cruz, Raya Martin und Brillante Mendoza), die sich auf den großen Volksregisseur Lino Brocka berufen. (Lino Brocka, kurze Skizze: machte immer auch sehr populäres Genrekinos, um Geld zu haben für seine Filme über die Ausgesonderten der philippinischen Gesellschaft, die in Slums leben, arm, aber aufrecht, die melodramatische Verzweiflung durchleben, an deren Ende oft der Tod steht. Aufwühlendes, mitnehmendes, aber auch hymnisches und von großer Aufrichtigkeit getragenes Kino.) (Noch eine Anmerkung: Lav Diaz spielt mit einigen anderen Filmemachern zusammen in einer Band: „The Brockas“. Einmal, in einer dokumentarisch gehaltenen Szene, die an den Vergüngungsstrand des Ortes hinführt, sind die Riffs einer elektrischen Gitarre zu vernehmen: Es spielt Lav „Lavrente“ (so seiner voller Name) Diaz.)
Lav Diaz ist überdies ein großer Verehrer der russischen Autoren. Dostojewski (sein letzter weniger langer Film und erster großer Erfolg NORTE – am Sonntag in der Retro im Österreichischen Filmmuseum um 16 Uhr zu sehen – ging auf dessen „Schuld und Sühne“ zurück), jetzt Tolstoi. Die Geschichte der Frau, unschuldig wegen Mordes verurteilt, die aus dem Gefängnis freikommt und auf sehr perfide Weise Rache nimmt am Anstifter der Bluttat (ein Riss, der durchs Land geht, wird hier inszeniert, zwischen den Ausgestoßenen, Hoffnungslosen und jenen, die zu Geld gekommen sind und die Nähe der Machthabenden genießen), diese Geschichte ist inspiriert von der Tolstoi’schen Volkserzählung: „Gott sieht die Wahrheit, auch wenn Er jahrelang schweigt“.
Es ist das Jahr 1997. Über der Geschichte lagert ein diffuser historischer Kontext, der zu Beginn und später immer wieder über das Radio verlautbart wird, nicht wirklich zu entschlüsseln für die, die mit den Ereignissen der Region nicht vertraut sind. Eine Entführungswelle verunsichert die Philippinen, Ziel sind vor allem die aus Hongkong zurückgekehrten chinesisch-philippinischen Bürger, nach der britischen Übergabe von Hongkong an China. Es waren die meisten Entführungen, die die Philippinen in einem Jahr registrierten, Manila bekam das Label „Asia’s kidnapping capital“ verpasst.
Vor diesem Hintergrund spielt diese Geschichte der Rache. Auf einer Insel des philippinischen Archipels vervielfältigt sich die aus dem Gefängnis entlassene Hauptfigur Horacia Somorostro zu drei Frauen: die eine betreibt eine Garküche, die andere treibt sich in der Kirche herum, die dritte erforscht im Schatten der Nacht an der Seite eines Straßenhändlers die kleine Stadt – und das Objekt ihrer Rache, ihren Ex-Lover Rodrigo Trinidad, der den Mord angestiftet hatte, um sich an ihrer Untreue zu rächen, heute zu Geld und Ansehen gekommen.
Horacia ist wie ein vielgestaltiger Rächer, der, so heißt es einmal im Film, stets plötzlich wie Batman in der Nacht auftauchen kann. Mit jeder der drei Figuren, die Horacia einnimmt, die Köchin, die Fromme, die Harte mit der Baseball-Kappe, verbindet sich eine andere Tonalität und die Begegnung mit weiteren Figuren, die wie Allegorien der philippinischen Armut erscheinen: die Humpelnde (in der Garküche), die Obdachlose (in der Kirche), die Transvestitin (auf der Straße). Besonders schön ist das Groteske und Queere, die den Gestaltenwandel narrativierende Episode, die sich in der Nacht an der Seite des Balut-Straßenhändlers entfaltet, in der Horacia der Transvestitin Hollanda begegnet. Und die am Ende die Rache für sie vollziehen wird.
Horacia ist aber auch eine Retterin. Sie gibt den Verlorenen Beistand in Form von Arbeit, Essen oder Pflege. Schon im Gefängnis hat sie die Kinder unterrichtet, in Tagalog, mit ihnen die Verben konjugiert. Die Vergangenheitsformen, das ging leicht, die Formen für die Zukunft konnten die Kinder nicht finden: zu schwierig. – Das ist natürlich alles andere als unschuldig gesetzt. Die Rache, die schließlich ausgeführt wird, hat etwas zutiefst Doppelbödiges, Ambivalentes und Unmoralisches, das alles ausgelöst durch die gute Horacia: Es zeigt das Ende moralischer Eindeutigkeit, im Jahr 1997. Aus dem Radio ist der Tod von Mutter Teresa zu vernehmen.
Gebettet ins Zirpen der Grillen der Nacht entfaltet sich so ein höchst unmoralischer Raum, in dem verzweifelt versucht wird, Gutes zu tun und die Bevölkerung oder allgemeiner: la gente, das Volk, zu retten. Über ihn legt sich das Dunkel der Nacht, die die Menschen verschluckt, bis nur noch das Bellen eines Hundes zu vernehmen ist.
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Noch eine schnelle Anmerkung: zu Charo Santos, die die Hauptfigur Horacia spielt. Sie ist so etwas wie das Gesicht des philippinischen Fernsehens, Moderatorin und Gelegenheitsschauspielerin, Harvard-Absolventin, einflussreiche TV-Produzentin und Mega-Geschäftsfrau der philippinischen Filmindustrie. Ihre Besetzung lässt natürlich viel Raum für Interpretation: Kuschelt Lav Diaz mit der kommerziellen Auswertung? Ist seine Nähe zu den Media-Mächtigen nicht genau das, was er bei seinen Figuren anprangert? Verdankt sich am Ende sein internationaler Erfolg auf den Festivals einer Strategie, die geschult ist an populären und leicht konsumierbaren TV-Formaten? Oder ist er ein phillippinischer Fassbinder, der Leuten neue Rollen, ein neues Gesicht gibt? Und am Ende von höchster Ebene aus die Filmproduktion seines Landes beeinflussen kann? Vielleicht gar sein Land verändern kann, auch im Jahr 1 von Rodrigo Duterte?
Lav Diaz‘ Filme jedenfalls sind seit den zehn Jahren, in denen ich sein Schaffen verfolge, ungebrochen kompromisslos. Und ungebrochen katholisch-synkretistisch-historisch und hoffnungsvoll.
3. Tag: Rebellion
I. Anand Patwardhan – JAI BHIM COMRADE
Drei Stunden liegen vor mir. Drei Stunden indischer Dokumentarfilm, in dem es um das Kastensystem gehen wird. Regisseur Anand Patwardhan ist im prall gefüllten Stadtkino anwesend, und erklärt vor dem Film schnell noch die Grundzüge des indischen Systems, das sich zu guten Teilen mit einem westlich gedachten Klassensystem deckt. In seinem Film wird es um die „Unberührbaren“ gehen, sagt er, die aber heute nicht mehr so genannt werden. Sie haben sich selbst den Namen „Dalit“ gegeben, die „Unterdrückten“, nachdem Gandhi (der aus einer höheren Kaste kam) bereits versucht hatte, ihnen mit der religiösen Bezeichnung „Kinder Gottes“ den Status der zu Beschützenden zu verleihen. Dalit ist im Gegenteil ein politischer (Kampf-)Begriff, und genau das wird man sehen: Den politischen Kampf einer vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppe, die fast ein Viertel ihrer Gesamtheit einnimmt.
Ausgangspunkt für den Film war der Selbstmord des Aktivisten Vilas Ghogre, erklärt Patwardhan. Ghogre ist einer der zentralen Figuren der Dalit-Bewegung, der ihnen mit seinen Liedern lebensnahe Hymnen für den politischen Kampf lieferte. Was folgt, ist ein spannendes Doku-Epos über 14 Jahre Dalit-Aktivismus, im nahezu aussichtslosen Kampf gegen das Kastensystem. Ihr Denkmal ist Dr. Bhimrao Ambedkar, der als einer der ersten Dalits überhaupt ein Hochschulstudium absolvierte. „Jai Bhim“ ist eine Grußformel, für all jene, die seinem Vorbild nach vom Hinduismus zum Buddhismus konvertierten, um dem Kastensystem zu entkommen.
Sich derartige Dinge noch mal (oder zum ersten Mal) ins Bewusstsein zu heben, hilft, bevor man in den stream of political consciousness des Films eintaucht. Und zum Glück ist der Film weit von der Unterbreitung politisch-gesellschaftlicher Thesen entfernt, sondern portraitiert mehr das Kampfbewusstsein der Unterdrückten, immer mit der gerade richtigen Dosis an Hintergrundinformation.
I. Die Statue von Dr. Bhim Abedkar
Bei ihrer Enthüllung 1997 wurde auf die Dalits geschossen. Wenige Tage später nahm sich der Liedermacher Vilas Ghogre das Leben, was Patwardhan zum Film veranlasste. Er filmte 14 Jahre lang.
II. Die Müllmänner des Subkontinents: Die Dalits arbeiten in Umständen wie Sklaven der Moderne
Er portraitierte das Alltagsleben der Dalits, suchte Familien auf, die den Ausstieg aus der Religion und dem Unterdrückungssystem suchen. „Wir glauben nicht an Gott“, sagen drei kleine Mädchen. Ob sie denn keine Angst hätten vor den religiösen Konsequenzen? Sie zucken mit den Achseln. Sie waren nie in dem religiösen System drin und können mit der Frage nichts anfangen.
III. Die neue Sänger-Generation
Sie sehen sich als Nachfolger von Vilas Ghorge und kämpfen den politischen Kampf mit ihren Liedern. Jetzt wurden sie von der Regierung verboten und gezwungen, in den Untergrund zu gehen. In diesem Moment erkannte Patwardhan, dass er aufhören musste zu filmen, um sie nicht zu gefährden.
Der schnelle Rhythmus, die Mischung aus Szenen, Reden, Interviews und immer wieder Musik trägt. Wäre das Thema nicht so ernst, könnte man von einem politischen Doku-Musical sprechen und davon, dass die Zeit schnell vergangen ist, und man jetzt wieder ein Stückchen schlauer.
II. Olivier Assayas – APRÈS MAI
Fiebrigkeit im Gartenbau-Foyer. Anstehen für die Warteliste, um noch ein Ticket für den neuen Film von Olivier Assayas zu ergattern. Im Mai erst hatte ich Assayas in München interviewt, als er zur Retro ins Filmmuseum kam, im Anschluss habe ich ihn noch, zusammen mit Bernd Brehmer, ins Münchner Werkstattkino entführt. Assayas‘ Augen haben geleuchtet, als er das Kino sah, in dem fast alle seine Filme gezeigt wurden, in dem Kino mit dem Underground-Charme, mit den wild plakatierten Wände im Eingangsbereich des Kinos, mit den Graffiti beim Hintereingang, mit dem kreativen Chaos im Vorführraum: handgeklebte Programm-Flugblätter, die sich in einer Box stapeln, aufgetürmte Filmkopien, softpornografische/kannibalistische/zombiemäßige Film-Stills an den zugeklebten Wänden. Als Après mai dann beginnt, ist mir schlagartig klar, warum Assayas so ausgeflippt ist, als er das Werkstattkino sah: Es muss ihm wie das Kondensat eines Lebensgefühls seiner frühen Erwachsenenjahre vorgekommen sein, das von einem diffusen Zusammenkommen von Idealismus, politischen Idealen, Erotik und dem unbedingten Willen, etwas anders zu machen als so viele andere um ihn herum, geprägt war, nimmt man seinen Film wörtlich.
I. Der Demonstrant und das Mädchen
Es schreit einem entgegen, in den ersten Szenen von APRÈS MAI. Schaut her: so wild haben wir gelebt, seht: so wild haben wir uns gefühlt. Die Szenen sind schnell geschnitten, es wird gerannt, vor den Bullen davongerannt, nach einer nicht angemeldeten Demo sich ins nächste Haus geflüchtet bis unters Dach. Assayas erzählt nach dem Film, dass sie das tatsächlich alles gemacht haben, damals, Anfang der 70er Jahre: die Fensterläden der Schule mit politischen Parolen besprüht und den Hof mit Flugblättern bedeckt, auf Demos der Polizei davongelaufen, die Mädchen entdeckt, die Drogen. Dann irgendwann die Abkehr vom explizit Politischen, weil Assayas eine eigene ästhetische Form finden wollte für seine Kunst, die sich mit dem vordergründig Politischen nicht mehr vertrug.
II. Der Zweifelnde und das Mädchen
Später dann, als er bereits bildende Kunst studierte, hatte er einen Job am Set eines B-Movies. Man sieht im Film, wie sein Alter ego Gilles nach der Arbeit ins Kino geht, wo Experimentalfilme gezeigt werden. Im Programm: ein Film mit seiner Jugendliebe, die im Feuer umgekommen ist. Nach der Vorstellung muss Assayas diese Episode erklären: „Gilles will Filme machen und kommt von dieser absurden Arbeit am Filmset ins Kino, wo er einen Film sieht, der endlich zu ihm spricht!“
Der Film sollte pures Gefühl sein, doch ist er in vielem auch einfach nur viel illustrierte Handlung. Endlich kann Assayas – nach dem Erfolg, den er mit CARLOS hatte – Filme realisieren, die ihm vorher nicht möglich waren, mit einem für Frankreich mittleren Budget, wie er sagt (4 Mio. Euro), und mit einem ausgefeilten Bühnen- und Kostümbild. CARLOS gab es in zwei Versionen, die von Assayas bevorzugte mäandert und erlaubt Längen, Längen in denen sich Emotion ausbreitet, wo der atemlose Plot Verschnaufpause bekommt. Vielleicht hätte APRÈS MAI auch länger werden sollen, vielleicht kommt Assayas jetzt in die Zwänge des Erzählkinos. Um es kurz zu machen: Sein Film ist eine Wucht, aber auch reiner Plot. Zuviel Biopic, zuviel Künstler-Hermeneutik. Die Darsteller sind allesamt Laien und umwerfend, der Soundtrack ist wiedermal der Soundtrack von Assayas‘ Leben. Den Film prägt eine umwerfende autobiographische Verfasstheit und eine zur Perfektion durchgestylte Reminiszenz an die 70er Jahre. Unterm Strich jedoch ist da zu viel Plot, zu wenig Atemholen, eine aufgeregte Ereignishaftigkeit wie bei einer Vergangenheitsrekonstruktion, die uns mit vier Ausrufezeichen sagt: So! aufregend! war! das!
Auch wenn ich mit dem „neuen“ Assayas (nach CARLOS) nicht so ganz mitgehen kann und Einwände gegen die Atemlosigkeit habe: Der Film ist in der Aussage kraftvoll wie ein Flugblatt und schön anzusehen wie ein Graffiti an der Wand. Und: der Film hat mir klargemacht, warum er damals so ausgeflippte, als er es sah, das Werkstattkino. Und: Der Film wird – immerhin am Ende – zur reinen Leinwand, wenn das zu Kunst geronnene, geliebte Mädchen als Sehnsuchtsmoment an die binnendiegetische Projektionsfläche eines Kinos gezaubert wird. Ähnlich wie vor ihr hatte schon Maggie Cheung die Kinoleinwand erklettert, und ist in den anderen Zustand der Realität übergegangen.
2. Tag: Die Schauspieler
I. Alain Resnais – VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU
Es heißt anstehen im Foyer des Metrokinos, zwischen den verlockenden Angeboten von Kürbissuppe & Co. und der aufgeregten Schar, den neuesten, vielleicht letzten Film von Alain Resnais zu sehen. Ein Muss, der Kürbissuppe zu widerstehen (trotz der im Laufe des Tages fehlgeleiteten Ernährung). Ankunft im Kinosaal. Theaterhafte Holzvertäfelungen, das Gegenteil des „unsichtbaren Kinos“, das den Blick ganz auf die Leinwand konzentriert. Wir nehmen in den plüschigen roten Sitzen Platz. Die Leinwand geht auf, der Film fängt an. Fängt er an? Vous n’avez encore rien vu versammelt, wie als Echo von Godards gesprochenen Filmvorspann in LE MÉPRIS, verbal erst einmal via Telefon (und Kamera) alle Akteure des Films. „Hallo? Spreche ich mit Mathieu Amalric / Pierre Arditi / Sabine Azéma / Anny Duperey / Anne Consigny / Michel Piccoli / Lambert Wilson…?“ – „Ja, am Apparat.“ Sie werden einberufen als sie selbst, als Schauspieler, die als Akteure in „Eurydice“ des (fiktiven, aber an Anouilh/Resnais angelehnten) Antoine d’Anthac mitgewirkt haben. Hier sind wir bereits angekommen in der Binnenfiktion, die durch den extradiegetischen Umschwung, es mit den Schauspielern von Alain Resnais zu tun zu haben, in eine eigenartige Spannung gerät.
D’Anthac – ohne das vertiefen zu wollen – hat sich bei einem Reinigungsmanöver mit seinem Jagdgewehr ins Jenseits befördert, dies ein lange geplanter Selbstmord. Jetzt sehen sich die von ihm posthum einberufenen Schauspieler eine Inszenierung seines Evergreens „Eurydice“ an, die er mit Jungdarstellern gemacht hat. Bald beginnen die Schauspieler der alten Garde, die Texte mitzusprechen, die Handlung vor der Leinwand zu beleben. Eurydike und Orpheus sind dabei doppelt als Paar vertreten: durch Azéma/Arditi und Consigny/Wilson. Hier beginnt das Spiel mit Wiederholung und Variation, das Spiel der Möglichkeiten und der verschiedenen Tonfälle. Azéma/Arditi verkörpern eine spielerische Leichtigkeit in der Tragik, Consigny/Wilson geben ihm Verruchtheit und Direktheit.
Resnais lenkt hier das Augenmerk auf das Schauspiel an sich: Wie würde sich das Stück anfühlen bei anderer Interpretation, bei anderer Tonalität? Wie ist es, wenn Orpheus und Eurydike immer wieder dem Orkus der Illusion entrissen werden, wenn Szenen sich wiederholen und in anderen Schattierungen andere Sichtweisen auf die Handlung freilegen?
„Vous n’avez encore rien vu“: Ihr habt noch nichts gesehen, in dem Moment, wo ihr meint, etwas gesehen zu haben, gibt es immer noch die andere Möglichkeit. Resnais‘ „Alterswerk“ (Kollege Willmann) ist ein anstrengendes Unterfangen und doch Quintessenz dessen, was Resnais beim Kino immer auch fasziniert hat: Eine Möglichkeit, Variationen im Schnitt zusammenzudenken, während das Gefilmte die pure Präsenz der theaterhaften Performance und damit des einen, einzigen Augenblicks zeigt. Streckenweise anstrengend, aber erhellend. Und die Frage aufwerfend: Was gibt das Theater dem Kino, das Kino dem Theater? – Über allem schwebt die Frage nach der Wiederkehr und dem unwiederbringlichen Verlust, nach dem Moment im Fluss der Zeit, wenn sie vorüberschweift wie im Film. – Einen besseren Vorführort als das theatergleiche Metrokino hätte man sich für den Film nicht wünschen können.
II. Hong Sangsoo – DA-REUN NA-RA-E-SUH (IN ANOTHER COUNTRY)
Schnell ins Künstlerhaus. Hier läugt Hong Sangsoo mit Another Country, einem Film, der durch die Huppert dominiert sein wird. Das allein ist keine Überraschung, gilt Hong Sangsoo ja als der Vertreter des koreanischen Kinos, der dem französischen ganz nahe ist, der das parlando so gut beherrscht wie sonst nur Rohmer.
Eine Versuchsanordnung: Eine junge koreanische Frau ersinnt sich drei verschiedene Drehbücher für eine französische Schauspielerin, deren Handlung in genau dem langweiligen Küstenort spielt, in dem sie selbst feststeckt. Anne heißt ihre Figur, Huppert verkörpert sie. Wir sehen sie, wie sie mit giraffenähnlich gestreckten Hals durchs Bild stakst, mit einem lustigem Touristen-Englisch auf der Zunge und mit sichtlichem Spaß an der Hohlheit der Dialoge, wenn man als Besucher in einem fremden Land, in another country Begegnungen mit Menschen hat, die man nicht kennt.
Die Begegnungen wiederholen sich im Laufe der drei Episoden des Films, gleiche oder ähnliche Dialoge kehren wieder und fördern einen riesengroßen Spaß am Spiel bei der Huppert zutage. Die Dialoge sind mehr als banal: es geht um geborgte Regenschirme, um nicht vollzogene Wegbeschreibungen und um dem Verstehens-Gap der englischen Sprache zwischen der Französin und den Koreanern. Wie Hong Sangsoo Spaß erzeugt, während Huppert mit Worten und Gesten und einem Dauerlächeln auf den Lippen versucht zu erklären, was ein „Lighthouse“ ist, ist allein schon den ganzen Film wert. Sie ist die Schauspielerin in dem Film, während die anderen die Konstanten bleiben; an ihr kann beobachtet werden, wie Interpretationen aufgrund der vorgegebenen Parameter sich ähneln und sich dann doch die Film-Tonalitäten umkehren können.
III. Der koreanische Life Guard
Dabei geht es IN ANOTHER COUNTRY immer auch um mehr als nur um das Gefühl des „Lost in translation“. Ein koreanischer Life Guard, der in jeder Episode immergleiche Kraulzüge im Meer schwimmt, ist Epizentrum des Films. Er verführt (die dreifache) Anne zu einem Stelldichein in seinem Zelt, verkörpert das Junge und Ungestüme als Sehnsuchtshorizont und zugleich das Wesentliche von Hang Sangsoos Kino. Dialoge werden in Alkohol ertränkt, Unverständnisse werden weggelächelt, und bei allem geht es immer auch um das Physische des Zwischenmenschlichen, was da meint, das Emotionale: Just give me a kiss.
1. Tag: Gefangen im Gedankenraum – Brillante Mendozas SINAPUPUNAN
Selten das Gefühl im Kino: Ich verstehe überhaupt nicht, wie ich das dort vorne einordnen soll. Wie kann das Denken ankommen bei einem Gedanken, wenn sich permanent neue Fragen dazwischen schieben und soeben Gedachtes wieder verworfen wird? Und dass dieses fortwährende Neudenken- und Begreifenwollen einen nicht begeistert, sondern nur Zeichen ist einer allgemeinen Genervtheit, dem Film, den man da sieht, etwas Gutes abgewinnen zu wollen. Zu wollen!
Direkt und gleich am ersten Tag der Viennale passiert, was nie passiert: Dass man sich einem Film innerlich zutiefst zur Wehr setzt und dennoch bereitwillig dem folgen möchte, was da vorne passiert. Brillante Mendozas Sinapupunan (Thy Womb) wurde zum Präzendenzfall. Die Geschichte handelt von einem armen Ehepaar, das im Süden der Philippinen auf einer vornehmlich von Moslems bewohnten Inselgruppe lebt und sich – trotz fortgeschrittenem Alter und offensichtlichem Kinderreichtum der Region – nichts mehr wünscht als ein Kind.
I. Das alte Ehepaar: Sie ist Hebamme, er assistiert (wenn sie keine Matten flechten)
Da es an der Frau liegt, dass es „nicht klappt“, beschließen beide, dass der Mann eine zweite – jüngere – Frau ehelicht, um den Kinderwunsch zu erfüllen (das geht bei den Moslems so). Viel Geld muss gesammelt werden, um die Zweitfrau, die gar nicht so leicht zu finden ist, von ihrer Herkunftsfamilie freizukaufen. Ihre Bedingung: Wenn das Kind da ist, muss die erste Ehefrau gehen. In der entsprechenden Szene dann tief erschütterte Blicke über die Tragik, mit der es das Schicksal mit dem alten Ehepaar meint.
II. Die junge, clevere Zweitehefrau in spe
Der Gang der Handlung ist absehbar und hält einen winzig kleinen offenen Horizont bereit, der allerdings durch die sorgfältige dramaturgische Vorbereitung mehr als Behauptung Mendozas verstanden werden muss als tatsächlich gemeint. Während des Films Fragen über Fragen, eurozentristischer Natur, widersprüchlich, selbstoffenbarend und allesamt nicht bei einer Antwort ankommend: Wieso verschuldet sich ein in Armut lebendes Ehepaar, dem es bereits an allem fehlt, über Maßen, um sich einen Kinderwunsch zu erfüllen (ein Kind scheint gerade nicht zu fehlen)? Ist dieser Kinderwunsch als egoistisch zu bewerten, oder ist dies eine westliche Wohlstandsperspektive (auf Selbsterfüllung)? Haben Menschen in Armut nicht das Recht auf Selbsterfüllung (zuerst gelte es, die Existenz zu sichern)? Welche Familie der Welt (und sei sie noch so sehr „Schwellenwelt“) übergibt ihre junge, hübsche und gut ausgebildete Tochter gegen einen Haufen Gold und mehrere Bündel Geldscheine an einen, mit Verlaub, armen, alten Sack? Warum sollen wir Zuschauer mitleiden mit dem gealtertem Ehepaar, dessen Prokurationszeit abgelaufen ist, wenn es sich ein junges Ding quasi als Leihmutter nehmen will? Und wenn diese dann eine Forderung in den Raum stellt, die erstens ihren scharfen Verstand unter Beweis stellt, zweitens die Zweitehe als egoistisches Manöver entlarvt?
Widerstände tun sich auf gegen die Geschichte und gegen den Film. Militär bedroht die Einwohner, Mendoza versucht nach dem Film im Q&A – ohne überzeugen zu können – mit dem Eindruck auszuräumen, es würde hier auch um den Konflikt Christen (90%) gegen Moslems (10%, auf dem Archipel aber in der Mehrheit) gehen: „Das Militär beschützt die Bewohner“, es gehe ihm nicht um den Konflikt Christen gegen Moslems. Sagt er, während Abgesandte der Philippinischen Botschaft im Publikum sitzen. Immerhin heißt der Film „Thy Womb“, mit der christlichen Wendung, will man Gott ansprechen. Und auch die Bildern erzählen anderes, ohne dass man es gleichwohl verstanden hätte.
Dokumentarisch sei der Film, so ist überall nachzulesen. Das Denken läuft ins Ungewisse bei dem Versuch, es zu glauben. Zu bunt, zu prachtvoll sind die gezeigten „Bräuche“ der armen Inselbewohner. Hier haben Kamerafahrten, Ausstatter und Beleuchter kräftig nachgeholfen. Bunt, bunt, bunt sind alle ihre Kleider.
III. Die Ankunft der prächtigen Hochzeitsgesellschaft
Vielleicht aber kann nur ich nicht verstehen, woher all diese prachtvollen Gewänder kommen, und wieso sich die Feier einer Hochzeit wie die Werbeveranstaltung des örtlichen Touristik-Unternehmen anfühlt (im Abspann gibt es einen Hinweis auf eine touristische Beteiligung, was aber dennoch nichts heißen mag). Auch die Kamera-Kranfahrt über die Dächer der armseligen Hütten ist schweres und störendes Geschütz, will man die Echtheit der Story untermauern. (Mendoza sagt überflüssigerweise im Q&A, dass sein Film auf einer wahren Geschichte beruht. Das glauben wir ihm sofort: Eine wahre Geschichte? Viele wahre Geschichten! – Oder etwa nicht?)
Was bleibt? Ein Regisseur, der nach dem Film seltsam dünne Antworten gibt. Ein Film, der Folklore-Kitsch-verdächtig ist. Eine Geschichte, die ärgert, weil man nicht mitgehen will. Daran kann auch der Hinweis auf die Darsteller der Alten nichts mehr ändern, beide Stars des ruhmvollen philippinischen Kinos (Nora Aunor gilt als „Superstar in Philippine Entertainment Industry“, Bembol Roco kennt man aus Lino Brockas MANILA AT THE CLAW OF BRIGHTNESS, von 1975). Mendoza, das hat man schon in seinen früheren Filmen gefühlt, sieht sich als direkten Erben von Lino Brocka. Das Sozialkritische und Melodramatische seiner Filme stehen in Tradition mit dem Monument der philippinischen Kinogeschichte. Vielleicht aber verlangt die Gegenwart nach anderen Geschichten, auch wenn diese hier noch so echt sein mag. Und schon wieder führt ein Gedanke in den Raum ohne Antwort.
Von den Rändern der Viennale
Vom 25. Oktober bis 7. November findet das vielleicht schönste Filmfestival im deutschsprachigen Raum statt. Auf der Viennale kann man erleben, was es heißt, wenn das Festival in der ganzen Innenstadt spielt, in den wunderschönen Kinos der Stadt, die alt sind und nicht renoviert, in Sälen mit über 700 Sitzplätzen und haushohen Leinwänden oder intim und holzvertäfelt: kein Multiplex weit und breit, und doch alles einen Steinwurf voneinander entfernt. Als leicht morbide Kulisse setzt sich Wien dabei gekonnt in Szene, um die alljährliche Herbststimmung zu komplettieren. Dieses Jahr feiert die Viennale ihr 50. Jubiläum. Begonnen hat sie übrigens unpassenderweise als «Festival der Heiterkeit». Komödien standen im Zentrum des Filmprogramms, um den „Vorwürfen einer pro-kommunistischen Agitation zu entgehen“, wie es auf der Jubiläumsseite des Festivals heißt. Ab 1968 bis Ende der 80er Jahre entwickelte sich die Viennale zur Gussform, in der man sie heute noch kennt: mit einem anspruchvollen Filmangebot fürs Publikum aus einer Mischung aus Filmavantgarde und Arthouse, integriert in das Programm des Österreichischen Filmmuseums.
Für alle, die es nicht wissen: Werner Herzog war kurze Zeit Leiter der Viennale, nach ihm kamen Wolfgang Ainberger und Alexander Horwath, heute Leiter des Österreichischen Filmmuseums. Hans Hurch, dem immer wieder nachgesagt wird, dass er irgendwann als Kulturminister in die österreichische Politik gehen wird (ein Gerücht, dass sich trotz mannigfachiger Vertragsverlängerungen hartnäckig hält) ist seit 1997 Festivaldirektor. Sein „Bobo-Bashing“ hat Legende geschrieben („Man darf denen diesen hedonistischen, halbkritischen Genuss nicht durchgehen lassen.“). Dennoch lässt er es sich nehmen, den bourgeoisen Bohèmes immer wieder französische Filme zu servieren, die durchaus schön anzusehen sind.
Mal sehen, ob es auch im 50. Jahr derart kraftvolle Zitate aufzuschnappen sind: von den Rändern der Viennale wird dieser Blog berichten.
Filmtipps für den Festivalendspurt
NEIGHBOURING SOUNDS
Hundegebell, eine durchgedrehte Schwester, ein gelangweilter Immobilienmakler, eine Scurity-Geschaeftsidee: dies sind nur ein paar Ingredentien in Kleber Mendonça Filhos wahnwitzigem Ensemblefilm ueber die Unertraglichkeit, Nachbarn zu haben. Nonchalant begegnet der Film dem ganz alltaglichen Ennui, gepaart aus Langeweile und Aerger, in dem buergerlichen Wohnviertel von Recife.
Do., 05.07., 19:45 Uhr, CinemaxX 1
DIE BRÜCKE AM IBAR
Dichtes Historienmelodram über den Balkankonflikt Ende des 20. Jahrhunderts, das nicht nur Standard für den Geschichtesunterricht werden sollte. Einmal mehr gelingt hier dem Film, was tagesaktuelle Nachrichten und historische Erörterungen nur allzu selten vermögen: dem Krieg ein Gesicht zu geben. Starke schauspielerische Leistungen und ein ausgefeilter Plot, der das Melodram um eine alleinerziehende Mutter zweier Söhne, die zwischen die Fronten von Serben und Albanern gerät, nie überstrapaziert.
Fr., 06.07, 19:30 Uhr, HFF AudimaxX
WUTHERING HEIGHTS
In der Verfilmung des Romans „Sturmhöhe“ durch Andrea Arnold verschwindet das Licht im Dunkel, werden die Protagonisten in Regen, Schlamm und die Schönheit der sanften Hügel der schottischen Landschaft getaucht. Arnold besetzt in der Geschichte von der Bauernfamilie den Adoptivsohn durch einen Schwarzen, was den Konflikt noch deutlicher macht, die Bilder ganz und gar motiviert ins Schwarze hineingleiten. Atemberaubend, liebesverzweifelt.
Fr., 06.07, 19:00 Uhr, Rio 1
Sa., 07.07., 22:00 Uhr, Cinemaxx 1
DIE BESUCHER
Unbedingt sehenswerte Familiendystopie mit zarten Hoffnungselementen. Nicht nur wird auf Mikroebene seziert, wie sich hierarchische Eltern-Kinder-Verhältnisse im Laufe der Zeit ins Gegenteil verkehren und von Entfremdungstendenzen zersetzt werden; Constanze Knoche versteht auch die Makroebene in den Film zu integrieren – den unglücklichen Tanz der deutschen Gesellschaft mit der globalen Wirtschaft, der bis ins letzte Geäst eines Familienbaums zu spüren ist. Wir sind nicht, was wir sein wollen; wir sind das, was uns die wirtschaftlichen Umstände gestatten zu sein. Ein weiterer Glücksfall in der Festivalreihe Neues Deutsches Kino.
Sa., 07.07., 17:00 Uhr, CinemaxX 5
EL GUSTO
Ein Feelgood Movie ueber die Wiedervereinigung einer Band: Buona Social Vista Club goes Algeria! Juedische und muslimische Musiker starten 50 Jahre nach Ende des Algerienkriegs noch einmal mit ihrer Gute-Laune-Musik durch. Sie erinnern sich an das friedliche Miteinander, die coolen Cafes und die Aufbruchstimmung in Algier am Vorabend der Unabhaengigkeit. Ganz und gar mitreissend!
Sa., 07.07., 17:30 Uhr, HFF Kino 1
Vier zu Null für Spanien
EM-Finale. Ich bin für die Italiener, obwohl ich weiß, dass die Spanier die besseren sind. Damit mache ich mir aber keine Freunde. Ich werde belehrt darüber, dass Spaniens Fußball ganz viel mit Kommunismus zu tun hat, Italien dagegen dem Starprinzip folgt. Ich halte dagegen, dass sich die italienische Mannschaft seit ihrem letzten Auftritt auf einem internationalen Turnier verändert hat, dass auch sie kreativen Fußball spielt. Außerdem: Was ist schon gegen Stars einzuwenden? Pirlo und Buffon, vor ihrer Zeit gealtert und mit einem verlebten Charisma versehen, sind wahrhafte Leinwandhelden: Cool, abgehoben, und sie wissen (nicht), was sie tun. Beim Public Viewing setze ich mich wie sonst auch im Kino so, dass mir niemand den Blick versperren kann, also ganz nach vorne. Ich lasse nichts zwischen mich und die Leinwand. Um halb elf fängt mein Abendfilm an, hoffentlich gibt es keine Verlängerung, auch kein Elfmeterschießen. Und hoffentlich wird das Spiel interessant. Es gibt nichts schlimmeres als 90 Minuten vertane Zeit. 90 Minuten sind ja auch die Standardspielfilmlänge. 90 Minuten eignen sich perfekt für eine Dramaturgie mit Anfang, Höhepunkt und Schluss. Spannend wird es, wenn es nicht nur zur Halbzeit einen Cliffhanger gibt, sondern wenn sich überhaupt spannende Drehmomente während des Spiels ereignen. Nach dem 2:0 für Spanien wünsche ich mir, dass noch ein Tor fällt, von mir aus von den Spaniern, da ist noch was drin, sage ich mir. Während ich nervös auf meinen lackierten Fingernägeln knabbere, stelle ich fest, dass ein Fußballspiel die ideale Schule des Sehens ist. Aktiv muss man sehen, will man überhaupt was vom Spiel verstehen. Und wenn wir uns vorstellen, dass der Fußball der passive Volksport überhaupt ist, dann verstehe ich eines nicht: Warum das dann für die meisten Leute im Kino nicht möglich drin ist, das mit dem aktiven Gucken. Die Filme mit dem größten Erfolg sind immer noch die, in denen der Zuschauer nichts dazutun muss (oder auch kann), um an den Film ranzukommen. Es sind Filme, in denen er sich einfach einlullen lässt, in der die Handlung bis ins Detail expliziert wird. Filme, die sich dem Zuschauer entgegenschmeißen wie ein Werbeclip, meist im Dienste von höheren, allgemeinen und vermeintlich wahren Werten.
Ich merke, wie am dritten Tag des Filmfests mein korallenfarbener Nagellack abzublättern beginnt. Und ich langsam unruhig werde im Universum, wo Filme und ins Kino gehen zu einem gewissen Lifestyle gehören. Lifestyle: Insein, Schicksein, Dabeisein. Egal ob bei Party, Empfang oder After Hour. Kaum einer hat dabei Lust sich anzustrengen wie bei einem Fußballspiel. Im Kino sitzen, den Film verfolgen, aktiv, mit analytischem Sehen, momentanen Bewertungen, Kombinationen, Interpretationen und finalen Meinungen zu schauspielerischen und dramaturgischen Qualitäten. Das war ein guter Film! wird gerne gerufen, wenn konsensfähige Themen in häppchenhafter Manier wie beim Empfang die Canapées dargeboten werden, der Plot sich süffig anlässt wie das dazugehörige Glas Prosecco. Was für ein schöner Film!, rufen dagegen diejenigen, die sich durch einen Film hindurchgearbeitet haben, die partizipierten an der Entstehung, im Kopfe des Betrachters.
Da fällt das 3:0 für Spanien, wenig später steht es 4:0, Endstand. Das Match war ein echtes Bravourstück. Alles, was ein Spiel braucht. Jetzt gehe ich ins Kino.
Dunja Bialas