Provozieren, aufrütteln, bewegen, überraschen
„Nationalismus ist Gift für die Gesellschaft“ mit diesem ebenso lapidaren wie wahren Satz begannen die beiden Diagonale Intendanten, Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, ihre Eröffnungsrede. Der Satz ist nicht nur für sich genommen fast banal wahr und ein politisches Statement, er gehört auch zum neuen, von Johann Lurf gestalteten, Diagonale Trailer. Seit langem wieder ein Trailer, der visuell fordert, anspricht, gewitzt gemacht ist, bei dem man in den kommenden Tagen immer wieder neue Aspekte entdecken können wird, der aber eben auch eine politische Ebene mit einbringt.
In der ausverkauften Helmut List Halle wurde also launig, wenn auch ein bisschen langatmig, eröffnet. Es gab die Rede der Intendanten, mittlerweile routiniert ohne dabei an Charme zu verlieren, die Verleihung des Grossen Diagonale Schauspielpreis an die wunderbare Birgit Minichmayr, auch dies Anlass zu (film)politischen Kommentaren, und dann den Film, mit dem diese Woche des österreichischen Kinos beginnt:
„Der Boden unter den Füssen“ von Marie Kreutzer. Die Geschichte zweier ungleicher Schwestern, hier die labile, schizophrene „Grosse“, dort die organisierte, strebsame „Kleine“, die eine, nach einem Selbstmordversuch, in der Psychiatrie, die andre hin und herjettend auf dem Weg zur grossen Karriere als Unternehmensberaterin. Dazwischen Zweifel, Selbstzweifel, Paranoia, geschwisterliche-und lesbische Liebe. Drei grossartige Schauspielerinnen tragen den Film, und sorgen dafür, dass der Zuschauer nicht den Boden unter den Füssen verliert. Obwohl es irgendwann in der Mitte des Films schwierig wird den Machenschaften und Intrigen der Unternehmenssanierer zu folgen, zu viel, zu lang, zu wenig auf den Punkt. Um die geradewegs ins „Burn-Out“ steuernde Schwester zu verankern, wäre weniger mehr gewesen. Dafür wünscht man sich an manchen Stellen etwas mehr Verankerung im Privaten, um das emotionalen Chaos zwischen den Figuren klarer zu zeichnen. Kurzzeitig mischt sich gar ein Horror-Aspekt mit herein, das Telephon, das alle klingeln hören, aber ist am anderen Ende wirklich die kranke Schwester, oder ist alles nur Einbildung? Kann sich eine schwankende Innenwelt auf die Aussenwelt übertragen? Oder möchte die Geschichte kurz komplett das Genre wechseln? Insgesamt ist der, auf 35 mm gedrehte, Film auf jeden Fall sehenswert und ein vielversprechender Einstieg in die Festivaltage.
Zum Abschluss des Abends wurde dann doch auch noch dem Hedonismus gefrönt, mit Gemüsepfanne, alkoholischen Getränken und Musik.
Der Blick der Frauen? Auf Frauen schauen?
Frauen im Film(Geschäft), wie bei vielen Festivals zur Zeit, stellt sich auch in Graz die Frage, ob und in welcher Art Frauen im Film präsent sind, bei flüchtigem durchzählen im Katalog ist auf jeden Fall das Verhältnis Regisseure zu Regisseurinnen beklagenswert schlecht. Aber immerhin gibt es in diesem Jahr eine Programmschiene „Weiblichkeitsbilder“. In Diskussionen, alten und neuen Filmen wird die „Weiblichkeit im österreichischen Film“ beleuchtet. Ein Anfang, immerhin. Aber schon bei den Juroren zeigt sich, dass es eine, wenn auch leichte, Überzahl an Männern gibt, da hilft es dann auch nicht, dass in den beiden Hauptjurys jeweils eine Festivaldirektorin, Eva Sangiorgi, Viennale und Seraina Rohrer, Solothurner Filmtage, sitzt. Aber auch das, ein Anfang.

(c) ch.dériaz
Ein Schaustück für die, auch manipulative, Macht der Filmmontage, die bildlichen Analogien zwischen der Schafherde und den Flüchtenden im Spätsommer 2015 könnten fast böse Absicht suggerieren, aber darum geht es in „Refugee Lullaby“ von Ronit Kerstner nicht, ganz im Gegenteil. Ein Aussteiger, Schäfer, Kind jüdischer Kommunisten, wird auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise zum freiwilligen Helfer. Und so wie er seine Schafe durch die Wiesen lenkt, und sich rührend um jedes versprengte Lamm kümmert, sammelt er entlang der ungarisch-österreichischen Grenze, müde und erschöpfte Flüchtlinge ein, und fährt sie mit seinem Auto bis zur Grenze. Die aus den Nachrichten bekannten Bilder kontrastieren mit der fast idyllischen Einfachheit seiner Behausung, kontrastierende und changierende Analogien. Ähnlichkeiten auch inhaltlicher Natur, spiegeln sich die Fluchtgeschichten seiner Familie mit denen der Familien, die heute flüchten. Umrahmt und unterlegt ist alles von jiddischen Liedern, die der Schäfer irgendwann für sich entdeckt hat, und weiter entwickelt. Alte und neue Lieder, die er beim Autofahren singt, aber auch als Wiegenlieder für Schafe und weinende Kleinkinder einsetzt. Die Kamera ist leider nicht durchgängig schön, was dann manchmal schon schade ist.
In Graz werden die Kurzfilme in drei Kategorien geteilt: Innovativ-Spiel- und Dokumentarkurzfilm, was dann aber Musikvideos in der Rubrik Kurzspielfilm zu suchen haben erschliesst sich nicht, zumal wenn diese nicht mal annähernd narrativ sind. Aus dem Programm 2, drei besonders schöne Filme, in denen es um Familie und den Umgang miteinander geht. „Kalb“ von Franz Quitt, „Schwestern“ von Florian Moses Bayer und „Ene Mene“ von Raphaela Schmid, in allen drei Filmen geht es um Familien, und deren Umgang miteinander. “Kalb“ kommt gänzlich ohne Dialog aus, und zeigt kurz und warmherzig die Beziehung zwischen Enkel und Grossvater, ein schweigsames Einverständnis, bei dem beide von einander profitieren, zwei bäuerliche Arbeitstage mit der selben Routine aber komplett verschiedenem Ausgang. „Schwestern“ spielt mit sich anbietenden Klischees, ohne diese zu bedienen. Die Schwestern treffen sich anlässlich des Todes der Mutter in ihrem Heimatdorf, die die blieb, und die die in die Stadt ging. Die Sicht darauf wie das Begräbnis zu gestalten ist könnte nicht weiter voneinander entfernt sein. Der Streit eskaliert, wie er nur unter Geschwistern eskalieren kann, aber genau so und ohne jegliches Einmischen vertragen sie sich wieder und finden einen Weg, der beide zufrieden stellt. Das offensichtliche Klischee, das nicht bedient wird? Eine der beiden Schwestern ist schwarz, aber dieser Umstand bleibt, bis auf einen ganz kurze Situation, rein visuell, wird nicht inhaltlich, und verdichtet dadurch das gezeigte geschwisterliche Band. „Ene Mene“ erzählt vom Umgang mit dem Tod, und zeigt, dass die kleine Schwester einen bedeutend pragmatischeren Weg der Verarbeitung bietet und lebt, als ihre trauernde Mutter, das ist nett und unprätentiös gemacht.
Auch bei Kurzdokumentarfilmen muss man die Frage stellen, ob ein Film, der nicht fiktional ist, schon ein Dokumentarfilm ist. Ausser „Das Buch Sabeth“ von Florian Kogler, der ein bewegendes und lustiges Portrait der russischen Künstlerin Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan zeichnet, sind alle Filme im Kurzdokumentarfilmprogramm 2 eher als experimentell zu bezeichnen. Sie zeigen Bilder, die mit den unterlegten, oder als Schrifttafeln eingefügten Texten nur bedingt zu tun habe, private Briefe, die ein Innen nach aussen kehren wollen, ohne das Aussen, den Zuschauer, zu erreichen. Das ist anstrengend, aber nicht fordernd, das kann nicht die Provokation sein, die man sich wünscht. „Das Buch Sabeth“ im Gegenzug ist charmant, witzig, warmherzig und zeigt eine fabelhafte alte Dame, die in ihrer aktiven Zeit Klavierspielerin, Malerin, Dichterin und Übersetzerin war. Ihre Wohnung ist voller Erinnerungen, die sie Stück für Stück ans Licht zieht, und sich in Anekdoten und kleinen Frechheiten verliert.

(c) chderiaz
In „Sie ist der andere Blick“ portraitiert Christina Perschon in eigenwilliger filmischer Handschrift Künstlerinnen, die in den 60ger und 70ger Jahren gegen Vorurteile und gesellschaftliche Konventionen zur feministischen und künstlerischen Avantgarde wurden. Malerinnen, Filmemacherinnen, Photographinnen, grosse Namen, die auch heute noch gross sind: Linda Christanell, Margot Pilz, Karin Mack, Lore Heuermann. Manches in dieser Dokumentation funktioniert hervorragend, wie gleich zu Anfang, die in 16mm gedrehten Passagen, in denen Leinwände grundiert werden, immer wieder, immer weiter, und immer abstrakter werdend, darunter von allen Künstlerinnen erste Interviews, die Geschichte ihrer Anfänge. Als Rahmen dient allen Künstlerinnen dasselbe, leere Atelier, das sie mit sich und ihrer Kunst „bespielen“. Manchmal wünscht man sich nur, etwas genauer zu sehen was sie zeigen, worüber sie reden, wie bei den Photos, von denen Karin Mack spricht, sie bleiben in der Totale, und werden nur kurz Richtung Kamera gehalten. Auch Renate Bertelmanns Kautschukobjekte wären aus der Nähe sicher schön anzusehen. Und ob einem gefällt, wenn Interviews einfach hart zusammengeschnitten werden bleibt wohl Geschmackssache. Spannend und interessant ist der Film dennoch.
Nils Olger arbeitet sich in „Eine eiserne Kassette“ minutiös durch die Nazi Vergangenheit seines Grossvaters. Anhand von Photos, die er nach dem Tod des Grossvaters erstmals zu Gesicht bekommt, rekonstruiert er das letzte Kriegsjahr. Akribisch fährt er zu den Schauplätzen, die er auf den Bildern findet, vergleicht, untersucht, redet mit Zeitzeugen, oder mit deren Nachkommen. Er bleibt dabei gleichzeitig distanziert, und doch persönlich betroffen, der Grossvater der Kindheit verblasst hinter den Aufdeckungen, es bleibt nur der SS-Mann, der zumindest geschwiegen hat, und eine Grossmutter, die allzu leicht relativiert.

(c) ch.dériaz Peter Schernhuber
Die Diagonale und Graz sind eigentlich immer mit ersten warmen Tagen verbunden, noch ist da, wie bei den Filmen Luft nach oben, aber das ist ja auch erst der Anfang.