3. Tag: Rebellion

I. Anand Patwardhan – JAI BHIM COMRADE

Drei Stunden liegen vor mir. Drei Stunden indischer Dokumentarfilm, in dem es um das Kastensystem gehen wird. Regisseur Anand Patwardhan ist im prall gefüllten Stadtkino anwesend, und erklärt vor dem Film schnell noch die Grundzüge des indischen Systems, das sich zu guten Teilen mit einem westlich gedachten Klassensystem deckt. In seinem Film wird es um die „Unberührbaren“ gehen, sagt er, die aber heute nicht mehr so genannt werden. Sie haben sich selbst den Namen „Dalit“ gegeben, die „Unterdrückten“, nachdem Gandhi (der aus einer höheren Kaste kam) bereits versucht hatte, ihnen mit der religiösen Bezeichnung „Kinder Gottes“ den Status der zu Beschützenden zu verleihen. Dalit ist im Gegenteil ein politischer (Kampf-)Begriff, und genau das wird man sehen: Den politischen Kampf einer vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppe, die fast ein Viertel ihrer Gesamtheit einnimmt.

Ausgangspunkt für den Film war der Selbstmord des Aktivisten Vilas Ghogre, erklärt Patwardhan. Ghogre ist einer der zentralen Figuren der Dalit-Bewegung, der ihnen mit seinen Liedern lebensnahe Hymnen für den politischen Kampf lieferte. Was folgt, ist ein spannendes Doku-Epos über 14 Jahre Dalit-Aktivismus, im nahezu aussichtslosen Kampf gegen das Kastensystem. Ihr Denkmal ist Dr. Bhimrao Ambedkar, der als einer der ersten Dalits überhaupt ein Hochschulstudium absolvierte. „Jai Bhim“ ist eine Grußformel, für all jene, die seinem Vorbild nach vom Hinduismus zum Buddhismus konvertierten, um dem Kastensystem zu entkommen.

Sich derartige Dinge noch mal (oder zum ersten Mal) ins Bewusstsein zu heben, hilft, bevor man in den stream of political consciousness des Films eintaucht. Und zum Glück ist der Film weit von der Unterbreitung politisch-gesellschaftlicher Thesen entfernt, sondern portraitiert mehr das Kampfbewusstsein der Unterdrückten, immer mit der gerade richtigen Dosis an Hintergrundinformation.

I. Die Statue von Dr. Bhim Abedkar

Bei ihrer Enthüllung 1997 wurde auf die Dalits geschossen. Wenige Tage später nahm sich der Liedermacher Vilas Ghogre das Leben, was Patwardhan zum Film veranlasste. Er filmte 14 Jahre lang.

II. Die Müllmänner des Subkontinents: Die Dalits arbeiten in Umständen wie Sklaven der Moderne

Er portraitierte das Alltagsleben der Dalits, suchte Familien auf, die den Ausstieg aus der Religion und dem Unterdrückungssystem suchen. „Wir glauben nicht an Gott“, sagen drei kleine Mädchen. Ob sie denn keine Angst hätten vor den religiösen Konsequenzen? Sie zucken mit den Achseln. Sie waren nie in dem religiösen System drin und können mit der Frage nichts anfangen.

III. Die neue Sänger-Generation

Sie sehen sich als Nachfolger von Vilas Ghorge und kämpfen den politischen Kampf mit ihren Liedern. Jetzt wurden sie von der Regierung verboten und gezwungen, in den Untergrund zu gehen. In diesem Moment erkannte Patwardhan, dass er aufhören musste zu filmen, um sie nicht zu gefährden.

Der schnelle Rhythmus, die Mischung aus Szenen, Reden, Interviews und immer wieder Musik trägt. Wäre das Thema nicht so ernst, könnte man von einem politischen Doku-Musical sprechen und davon, dass die Zeit schnell vergangen ist, und man jetzt wieder ein Stückchen schlauer.

II. Olivier Assayas – APRÈS MAI

Fiebrigkeit im Gartenbau-Foyer. Anstehen für die Warteliste, um noch ein Ticket für den neuen Film von Olivier Assayas zu ergattern. Im Mai erst hatte ich Assayas in München interviewt, als er zur Retro ins Filmmuseum kam, im Anschluss habe ich ihn noch, zusammen mit Bernd Brehmer, ins Münchner Werkstattkino entführt. Assayas‘ Augen haben geleuchtet, als er das Kino sah, in dem fast alle seine Filme gezeigt wurden, in dem Kino mit dem Underground-Charme, mit den wild plakatierten Wände im Eingangsbereich des Kinos, mit den Graffiti beim Hintereingang, mit dem kreativen Chaos im Vorführraum: handgeklebte Programm-Flugblätter, die sich in einer Box stapeln, aufgetürmte Filmkopien, softpornografische/kannibalistische/zombiemäßige Film-Stills an den zugeklebten Wänden. Als Après mai dann beginnt, ist mir schlagartig klar, warum Assayas so ausgeflippt ist, als er das Werkstattkino sah: Es muss ihm wie das Kondensat eines Lebensgefühls seiner frühen Erwachsenenjahre vorgekommen sein, das von einem diffusen Zusammenkommen von Idealismus, politischen Idealen, Erotik und dem unbedingten Willen, etwas anders zu machen als so viele andere um ihn herum, geprägt war, nimmt man seinen Film wörtlich.

I. Der Demonstrant und das Mädchen

Es schreit einem entgegen, in den ersten Szenen von APRÈS MAI. Schaut her: so wild haben wir gelebt, seht: so wild haben wir uns gefühlt. Die Szenen sind schnell geschnitten, es wird gerannt, vor den Bullen davongerannt, nach einer nicht angemeldeten Demo sich ins nächste Haus geflüchtet bis unters Dach. Assayas erzählt nach dem Film, dass sie das tatsächlich alles gemacht haben, damals, Anfang der 70er Jahre: die Fensterläden der Schule mit politischen Parolen besprüht und den Hof mit Flugblättern bedeckt, auf Demos der Polizei davongelaufen, die Mädchen entdeckt, die Drogen. Dann irgendwann die Abkehr vom explizit Politischen, weil Assayas eine eigene ästhetische Form finden wollte für seine Kunst, die sich mit dem vordergründig Politischen nicht mehr vertrug.

II. Der Zweifelnde und das Mädchen

Später dann, als er bereits bildende Kunst studierte, hatte er einen Job am Set eines B-Movies. Man sieht im Film, wie sein Alter ego Gilles nach der Arbeit ins Kino geht, wo Experimentalfilme gezeigt werden. Im Programm: ein Film mit seiner Jugendliebe, die im Feuer umgekommen ist. Nach der Vorstellung muss Assayas diese Episode erklären: „Gilles will Filme machen und kommt von dieser absurden Arbeit am Filmset ins Kino, wo er einen Film sieht, der endlich zu ihm spricht!“

Der Film sollte pures Gefühl sein, doch ist er in vielem auch einfach nur viel illustrierte Handlung. Endlich kann Assayas – nach dem Erfolg, den er mit CARLOS hatte – Filme realisieren, die ihm vorher nicht möglich waren, mit einem für Frankreich mittleren Budget, wie er sagt (4 Mio. Euro), und mit einem ausgefeilten Bühnen- und Kostümbild. CARLOS gab es in zwei Versionen, die von Assayas bevorzugte mäandert und erlaubt Längen, Längen in denen sich Emotion ausbreitet, wo der atemlose Plot Verschnaufpause bekommt. Vielleicht hätte APRÈS MAI auch länger werden sollen, vielleicht kommt Assayas jetzt in die Zwänge des Erzählkinos. Um es kurz zu machen: Sein Film ist eine Wucht, aber auch reiner Plot. Zuviel Biopic, zuviel Künstler-Hermeneutik. Die Darsteller sind allesamt Laien und umwerfend, der Soundtrack ist wiedermal der Soundtrack von Assayas‘ Leben. Den Film prägt eine umwerfende autobiographische Verfasstheit und eine zur Perfektion durchgestylte Reminiszenz an die 70er Jahre. Unterm Strich jedoch ist da zu viel Plot, zu wenig Atemholen, eine aufgeregte Ereignishaftigkeit wie bei einer Vergangenheitsrekonstruktion, die uns mit vier Ausrufezeichen sagt: So! aufregend! war! das!

Auch wenn ich mit dem „neuen“ Assayas (nach CARLOS) nicht so ganz mitgehen kann und Einwände gegen die Atemlosigkeit habe: Der Film ist in der Aussage kraftvoll wie ein Flugblatt und schön anzusehen wie ein Graffiti an der Wand. Und: der Film hat mir klargemacht, warum er damals so ausgeflippte, als er es sah, das Werkstattkino. Und: Der Film wird – immerhin am Ende – zur reinen Leinwand, wenn das zu Kunst geronnene, geliebte Mädchen als Sehnsuchtsmoment an die binnendiegetische Projektionsfläche eines Kinos gezaubert wird. Ähnlich wie vor ihr hatte schon Maggie Cheung die Kinoleinwand erklettert, und ist in den anderen Zustand der Realität übergegangen.